Tappa 10: nach Taormina

Frühstück im Witzhotel: Als ich morgens aufstehe und mich nach unten begebe (wo die Bäckerei ist), schauen sie mich an, als käme ich vom Mond. Es kommt wohl nicht oft vor, dass die Bäckerei hier Gäste hat.

Ich darf mir zwei Croissants (ah, frisch, mit Schoko und gefüllt) aussuchen, bekomme einen Kaffee und dann sitze ich da an einem Tisch, es kommen und gehen Menschen, die sich anstellen, um Backwerk zu kaufen.
Das Witzhotel war keine so gute Idee ...

Gestern Nacht hatte es mal mehr mal weniger heftig geregnet: Und noch immer sieht der Himmel nicht sehr freundlich auf. Hinter dem Hausberg Pattis warten dicke, dunkle Wolken darauf, sich abzuregnen, hier und da ist die Straße noch nass.

Ich packe mir vorsorglich meine Regenjacke in die Trikottasche - wer weiß, wann ich die gleich brauchen werde.

Ich bezahle das Witzhotel, 50 €, und mache mich sehr früh auf den Weg. Heute steht die Umrundung der Ostseite Siziliens auf dem Programm - und natürlich Messina. Messina, die Stadt an der gleichnamigen Straße, Nahtstelle zum italienischen Mutterland - in Sichtweite des Stiefels.

Doch zunächst muss ich mich direkt hinter Patti einige Serpentinen hinaufkämpfen. Es geht in eine steppenartige Umgebung einige hundert Meter über den Meeresspiegel. Die Landschaft erinnert mich an die Mondlandschaft Portugals, durch die ich mich während meiner allerersten Radtour 2008 bei 50 Grad Hitze bis zur spanischen Grenze vorgekämpft hatte.

Heute morgen freilich sind es gerade leicht über 20 Grad, ich komme zwar ins Schwitzen aber wenn ich mir den Himmel über mir beschaue schwant mir, dass heute noch die eine oder andere Abkühlung auf dem Programm stehen dürfte.

Vom Berg habe ich einen wunderbaren Ausblick auf die Küste - wildromantisch brechen die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und illuminieren das Meer. Unter mir breitet sich die Stadt Falcone aus, ganz hinten kann ich die dünne Landzunge erkennen - Milazzo, mein eigentliches Ziel von gestern.

Bis dahin hätte ich es allerdings nicht mehr geschafft, das steht fest.

Es grasen Pferde in der kargen Graslandschaft - ich grüße sie und trete rein.

Heute morgen komme ich sehr gut voran, habe frische Beine und denke mir, dass das daher kommt, dass ich gestern nachmittag nur noch sehr wenig unterwegs war. Spazieren in Patti geht schnell - zu sehen gibt es kaum etwas.

Ich fühle mich gut und so fliege ich förmlich die Anstiege hinauf, immer höher geht es auf dem Bergrücken, immer kleiner wird Falcone unter mir.

Autos begegnen mir kaum welche hier oben - dafür eine Rennradfahrerin, die sich einige Serpentinen unter (und vor) mir den Berg hinauf schraubt. Na, die werde ich grüßen, die Seniorita.

Wir erreichen beide den Gipfel des Berges - vor ihr liegt eine atemberaubende Abfahrt, das kann ich ihr versprechen - und in ihren abgekämpften Augen sehe ich, dass vor mir eine ebenso rasante liegen mag.

Sie sieht mich, wir nicken uns zu. That´s it. Naja, denke ich mir, da habe ich aber auch schonmal besser auf Frauen gewirkt ... Egal, reingetreten: Ich freue mich auf den Lohn meiner morgendlichen Plackerei.

So lenke ich mein Cervelo behenden Schrittes in die Abfahrt. Links unter mir grüßt Falcone, die Stadt in der Bucht und ich schätze mir 10 bis 15 Minuten Abfahrtspaß, bevor ich wieder Meeresniveau erreiche.

Und tatsächlich: Mit 60, 65 Sachen kann ich die Kuven nehmen, ich fliege geradezu nach unten. Da die Straße trocken und leer ist, kann ich mich auf die Abfahrt konzentrieren und genehmige mir einige Kurven in einer Schräglage und Geschwindigkeit zu fahren, die ich als halbwegs riskant bezeichnen würde: Aber welche Freude es ist, das Rad einmal im Grenzbereich zu bewegen!

Ich liege so schräg, dass ich Angst habe, meine Pedale schliffen gleich funkenschlagend auf dem Asphalt, ich fahre die Kurven so schnell, dass jeder noch so kleine Zug am Bremshebel unweigerlich zum Sturz führen würde, es knallt der Fahrtwind in meinen Ohren, meine Knie und Schenkel kühlen auf Frostniveau herunter - und doch, ich frohlocke und stoße Schreie der Freude aus, als sich die letzte Schräge langsam in die Horizontale begibt und das Rennrad wieder langsamer wird: Eine Traumabfahrt!

Doch sobald ich kurz vor dem Ortseingangsschild bin, öffnen die Wolken ihre Schleusen und es beginnt fürchterlich zu regnen. Platzregen, Neapel-Niveau. Ich mache eine erste kleine Pause an einer Tankstelle, warte ab, es wird schwächer, im Niese fahre ich weiter und muss erkennen, dass die Regenwolken anscheinend unbweglich über Falcone hängen - und so bleibt mir nichts weiter übrig, als einige Kilometer und vielleicht 30 Minuten in schwerstem Platzregen zu kurbeln.

Nass wird es in meiner Kimme, die Schuhe laufen voll, meine Laune ist ebenfalls auf Bodennniveau.

Mein Rad klingt, nachdem ich durch Pfützen und überquellende Sturzbäche dreckigsten Brackwassers steuern muss, wie ein armseliger Klapperroboter aus "Star Wars", ich möchte nicht wissen, wie viele Kilogramm Sandkörner da gerade an meinen Lagern und Wellen schmirgeln.

Doch kaum verlasse ich Falcone - auf einer Umleitung, die mich zu einem ärgerlichen Umweg zwingt - bricht wie bei einer Revolution plötzlich die Sonne durch die Wolken. Von einem Meter auf den anderen wird es trocken. Und heiß. Und keine Fünf Minuten später bin ich halbwegs trocken - ich drehe mich um, und tatsächlich, hinter mir liegt Falcone unter einer Wolkenbelagerung. Es regnet dort noch immer!

Vor mir liegt ein Industriegebiet, es riecht hier nach Chemie, das Atmen wird zum Stechen in den Lungen.

Keine Ahnung, was sie hier produzieren, aber es stinkt mir!
Milazzo, die Industriestadt, das ist also, wovon mir die Dame im Café gestern abgeraten hatte. Nein, denke ich mir, dann lieber in der Bäckerei+Hotel einen Maccheroni-Auflauf aus der Mikrowelle essen, anstatt sich hier ein Hotel suchen zu müssen.

Abgesehen davon, dass es in diesem sizilianischen Industriekomplex wohl kaum eines geben dürfte.

Links neben mir, im Meer, dümpelt eine Flotte kleinerer und mittlerer Frachter. Rostig knarzen sie an ihren Ankerketten. Die Krise, so sieht sie auch aus.

Schnell lasse ich Milazzo hinter mir und hoffe, dass mich diese wundervolle Insel nun nicht mit noch mehr Industrie und Lungen-Attacken bestrafen würde. Und sie tut es auch nicht.
Hinter Milazzo wird es ruhiger. Die Straße bleibt in der Nähe des Strands, die Dörfer werden wieder kleiner und die Küste wieder sandiger.

Das Meer scheint sich heute auf die Agenda geschrieben zu haben, mir eine Demonstration in Sachen "Schönstes Blau aller Zeiten" zu verabreichen. Es ist dieses Azur, das mir nicht mehr aus dem Kopfe geht: Sicher, die Sonne wird ihren Anteil haben bei diesem Schauspiel, aber ich kann mich gar nicht mehr satt sehen an dieser Farbtiefe, diesem überwältigenden, strahelnden Blau, das betört und angibt.

Torregrotta und Spadafora durchquere ich - kleine Badeorte mit wenig touristischer Infrastruktur. Vielmehr bauen sie ihre kleinen Häuschen fast direkt am Strand - ein herrliches Fleckchen Erde hier, still, fast abgeschieden vom Rest der Welt.

Die Straßen scheinen, wenn es einmal wieder über eine der seichten Wellen leicht bergan geht, im Himmel zu verschwinden. Und ich bin jetzt so in Trance, dass ich nichts dagegen hätte.

Heiß ist es geworden und mittlerweile muss es in meinen Schuhen, in denen ich bei jeder Kurbelumdrehung schmatzend das brackige Regenwasser Falcones hören kann, ein eigenes Biosystem geben. Irgendwann, sage ich mir, muss ich mal anhalten und Luft an die Sache lassen, bevor es zu spät ist und sich mein Fuß abspaltet ...

Unterdessen liegt vor der Küste eine Sandbank, deren Farbspiel mich zu einer Pause zwingt. Kein Fotoobjektiv kann dieses Schauspiel einfangen - ich halte die flache Hand vor meine Augen und decke den Strand ab: Ich sehe ein Dreispiel aus perfektem Blau.

Der feine Himmel, am Horizont mit leichtem Dunst besetzt, der das helle Blau ins Weiße andeutend auslaufen lässt, darunter ein Band aus Lapislazuli, dass es jedem Brillantenschleifer das Herz aufgehen lassen würde und darunter, die Sandbank, ein perfektes, strahlendes Türkis, das, als Schmuckstein herausgearbeitet, jede Frau zieren könnte.

Wäre ich Maler, ich würde auf der Stelle meine Staffelei auspacken und versuchen, diese Farben zu mischen. Und ich würde versagen, denn diese überwältigende Schönheit kann nur verlieren, versuchte man, sie von hier zu entfernen.

Bei Orto Liuzzo kann man rechts abbiegen, um in einem 15 Kilometer langen Ritt über die Berge direkt nach Messina vorzustoßen - eine Abkürzung, die den Autofahrern rund 40 Kilometer einspart. Für mich aber ist das nichts, denn einerseits sagt mir mein Sinn für Ästhetik, dass ich die Insel komplett umrunden muss, andererseits ist die Abkürzung mit einigen scharfen, steilen Serpentinen erkauft.

So folge ich weiter der SS 113 und erfreue mich am noch weniger gewordenen Autoverkehr, während die Strecke ab und zu durch wildes Manövrieren interessante Aus- und Einblicke auf die Insel und das Meer bietet.

Es geht nun mitunter sehr brutal tiefer ins Landesinnere hinein, um mich dann in hohen Bögen wieder zur Küste zu tragen - die Straße verläuft nur noch sehr selten genau am Strand und in Meereshöhe entlang, dafür kann ich wieder mehr klettern.

War es vielleicht nicht doch ein Fehler, nicht die Abkürzung genommen zu haben?

Als ich dann aber direkt vor mir im Meer die Inselgruppe Salina, Lipari und Isola Vulcoano im Meer schimmern sehe, fühle ich mich entschädigt.

Und siehe da - das Kurbeln hat sich gelohnt, mir schwellt die Brust. Denn hinter einer seichten Kurve sehe ich es dann endlich: Das italienische Festland. Den Stiefel!

Ich habe es also geschafft - das östliche Ende Sizliens ist nicht mehr weit, dann wird es eine scharfe Rechtskurve geben und nur noch weiter nach Süden gehen.

Solt trete ich rein, passiere einige verschlafene Badeorte und schiele immer wieder hinüber zu Küste. Da ist es, das Festland, das Mutterland. Da ist Italien, der Stiefel - da ist die Amalfiküste, die Berge, die einsamen, die schönsten Strände Italiens, wie man sagt. Da ist, wo ich lang kommen wollte, es wegen des Wetters aber nicht konnte.

Atemlos zwinge ich mich zu einer Pause.

In einem kleinen Bistro, etwa 10 Kilometer vor Messina, lasse ich mich ächzend in den Korbstuhl eines kleinen Cafés nieder. Die Sidi-Rennradschuhe ziehe ich aus und es scheint mir beinahe, als öffnete ich eine Packung vakuumverpackten Kaffees, als ich die Schuhe ausziehe.

Zischend gelangt frische Luft an meine nass geschwitzten, arg geschundenen Füße. Wie Pudding fühlen sie sich an. Und schlagartig werden auch die Sitzplätze neben mir frei - Rennradfahrersocken sind eben nichts für schwache Nerven.

So stärke ich mich bei ein, zwei Espressi und einigen Schokoladencroissants, ehe ich die restlichen Kilometer nach Messina in Angriff nehme.

Bei sehr viel mehr Verkehr und zunehmend schlechteren Straßen erreiche ich die Stadt eine halbe Stunde später und muss staunen - oha! - mitten an der Strandpromenade erfreut mich ein Radweg! Der erste Radweg seit Venedig, denke ich mir und muss innerlich grinsen - die ganzen 1.200 Kilometer keinen einzigen Radweg gehabt, und nun, kurz vor dem Ziel, dann doch wieder einen.

Ja, sie geht wirklich zu Ende, diese Reise!

Am Pier grüßt eine alte Bekannte, die "Queen Victoria", die ich einige Woche später bei Blohm&Voss in Hamburg wieder treffen sollte. Ein gewohnter, ein schöner Anblick.

Doch lange werde ich auch in dieser Stadt keinen Besuch halten, das ist mir jetzt schon klar - die Sonne steht hoch, es ist drückend heiß und das Gewusel und Gewimmel, das laute Gehupe und Gedampfe all der Abgase, das Schreien und Peiffen, es will mich nicht recht entzücken.

Auch Herr Geheimrat Goethe stößt nun wieder auf meine Route - er wird hier einige Tage verbringen, doch auch ihn scheint es schnell zur Abreise zu drängen, denn er berichtet uns folgendes:
"Beide wir erwachten mit gleicher Empfindung, verdireßlich, dass wir durch den ersten, wüsten Anblick von Messina zur Ungeduld gereizt, uns entschlossen hatten, mit dem französischen Kauffahrer die Rückfahrt anzutreten."

Nun, Goethe beschließt hier in Messina seine Italienreise - das, was ich noch vor mir habe, hatte er, von den Bergen her kommend, schon gesehen. Doch ich, ich habe noch zwei Stationen vor mir - und zunächst den Berufsverkehr von Messina.

Hinter Pizza-Scootern und Motorrollern zwänge ich mich durch die hupende, stehende Blechlawine hindurch, lasse die stickige Stadt, die mir etwas einladender als Neapel erscheint, hinter mir ind befinde mich direkt nach dem Ortsausgangsschild auf einer breiten Magistrale mit Fußgängerweg gen Süden - Links ein breiter Badestrand (kaum besucht), dahinter majestätisch die Spitze des italienischen Stiefels. Ein beeindruckender Anblick.

Kleine Fischerboote liegen löchrig auf dem Sand, alles in allem kommt es mir hier auch irgendwie etwas heruntergekommen vor, vorbei der Glanz alter Zeiten - oder bereitet sich hier erst alles auf kommende Zeiten vor?

Kaum Touristen, wie ich sehe, nicht einmal Angler, die sonst überall hier jede Mole und jeden Felsen bevölkern. Messina´s Straße - über deren Verkehrsreichtum mit Schiffen ich einiges gelesen habe - wirkt auf mich wie ausgestorben.

Aber hey, es ist kurz nach Mittag, die Sonne steht am heißesten Punkt und es verwundert mich kaum, dass hier nichts und niemand unterwegs ist.

So mache auch ich eine kleine Pause, stelle das Rennrad an das Geländer, lasse mich auf einer Bank nieder und schiele zum gegenüber liegenden Ufer.

Italien. Da also wäre ich hergekommen, wenn ich meiner urspründlichen Route gefolgt wäre. Da wäre sie geendet, die wahre, die perfekte Route, die mich den gesamten, nicht nur den halben Stiefel entlang geführt hätte.

Aber zu welchem Preis? Fünf Tage Regen und Sturm. Fünf Tage in Nässe und Schlamm? Nein, Danke, dann lieber so, wie ich es jetzt gemacht habe: Eine tolle Seefahrt mit eingebaut und die Nordküste Siziliens abgeritten.

So breche ich denn dann auf - mein Magen knurrt langsam und auch meine Beine werden müde - um die letzten Kilometer nach Taormina, meinem heutigen Etappenziel, in Angriff zu nehmen. Von einem fantastischen Rückenwind getrieben trete ich rein, zunächst noch auf der touristischen Magistrale, dann auf der breiten und sehr dicht befahrenen Super Strada, um endlich ins Hotel zu kommen.

Doch zunächst steuere ich eine Tankstelle an, um meine Wasserflaschen aufzufüllen. Ich lehne das Rad an eine unfassbar grüne Wand und stiefele zum Verkaufsstand.
Ein tiefschwarzer Tankstellenwächter sieht mich und schleicht hinter mir zu meinem Rennrad. Er besieht es sich interessiert und lächelt mich an, als ich zurück komme.

"Ciao!", grüße ich freundlich.
"Ciao!", macht auch er.
"Where you from?", fragt er.
"Germania, Hamburg."
"Ah, good, Country, good!", sagt er fröhlich - die bekannte Reaktion weltweit.

Er überlegt: "Do you have a Job in Germany?"
Wie jetzt? Ob ich einen Job habe?
"Me? No, I dont have ..."
"I am poor. My brother, my family came here from Africa - no Jobs here in Italy." Er schaut mich mit traurigen Augen an. "We think of going to Germany."
Oha. Da ist sie, die Armut. Die schlimme Seite dieser Welt. Die Verzweifelten, ihre Sehnsüchte. Da stehe ich nun, dürrer Hering in teurem Rennradstoff, in meinem Urlaub, in der einen Hand ein Latte Macchiato, in der anderen zwei Lipton Eistee. Und mir gegenüber einer von denen, die nichts haben. Vielleicht einer von denen, über die sie in der Tagesschau immer berichten, wie sie mit ihren überladenen Booten wie Elende die kleine Insel Lampedusa ansteuern. Und wenn sie nicht ihre Menschenschmuggler, eine hohe Welle oder ein brutaler Beamter am Einreisen hindern, dann schindern sie sich für einen Hungerlohn an Tankstellen, in Supermärkten oder beim Müllsammeln kaputt.
Da stehen wir uns nun gegenüber und er fragt mich, ob ich einen Job für ihn hätte.
"No, I guess, there are no Jobs in Germany either.", antworte mich und denke mir so - Scheiß System. Scheiße.

Traurig trete ich rein.
Er winkt freundlich.
"No problem, Sir.", sagt er und lächelt karibisch.
Und mir bricht es fast das Herz.

Langsam nur kann ich den Schwermut vertreiben - es berührt mich, wie mich hier, im vermeintlichen Paradies so unvermittelt die Wirklichkeit trifft und mein Wolkenkuckucksheim, das aus Giro-Romantik, Carbon und Sorgen um meinen Hintern besteht, ins Wanken bringt.

Zurecht, wie ich finde, denn das macht das unfassbare Glück, jenen Sechser im Lotto, der meine zufällige Geburt in Deutschland, diesem für den Großteil der Welt als Paradies geltenden, reichen Land, ist, noch unfassbarer.

Mitten in einer Steigung, noch ganz im Nachdenken begriffen, kann ich mich denn dann auch wenigstens ein bisschen nützlich machen und helfe einer Dame und einem älteren Herren beim Reparieren eines Kettenschadens. Na denn!

Es dauert noch fast zwei quälend lange Stunden, die ich mich in heißester Hitze mal auf unsagbar schlechten Straßen durch verschlafene Orte und mal durch verlassene Gegenden entlang eines einsamen Strandes kämpfen muss, bis ich endlich meinem Ziel näher komme: Taormina ist in Sicht!

Der Schweiß rinnt mir in Strömen durch das Trikot, an ein normales Sitzen ist nicht mehr zu denken - so sehr schmerzt nun mein Hinterteil. Immer wieder gehe ich in den Wiegetritt, rutsche mal nach vorn mal nach hinten auf meinem schmalen Sattel, nur, um die Schmerzen der Fahrt halbwegs erträglich zu machen.

Der Kilometerzähler geht an die 120.
Später an die 130 und ich frage mich fluchend, wann diese Etappe ein Ende hat, denn ich ertrage es kaum mehr.

Auch kann mich der fantastische Anblick des Meeres, der mich in den letzten Tagen über so manches Tief gerettet hat, kaum mehr motivieren - weich gekocht in der Birne identifiziere ich routiniert schöne Aussichtspunkte, halte, zücke mein Fotohandy, mache das Bild und fahre weiter - stupider Naturkonsum, leere Augen, eine Verschwendung, dass sich das Meer heute solche Mühe gint, perfekt auszusehen.

Wie im Wachkoma nehme ich alles nur noch wie am Rande wahr.
Im Geiste bin ich irgendwo anders: Im Geiste liege ich auf meinem Bauch. Ein 30 mal 30 Zentimeter messender und ein Dutzend Zentimeter hoher Eisblock liegt auf meinem brennenden, tiefroten Hintern.

Es zischt.


So erreiche ich, von Fata Morganen getrieben, schließlich Taormina, stoße ein Gebet gen Himmel, finde sogleich auf den Felsen über der türkisen Brandung ein Hotel (das sich als Glücksgriff erweisen wird) und bin froh, meinen tatsächlich tiefroten Hintern einige Minuten später in einer langen Dusche entspannen zu können.

Durch den Vorhang zieht vom Bananenbaum-reichen Atrium ein erfrischender Windzug ins Zimmer.

So wasche ich nach dieser mit fast 140 Kilometern längsten Etappe meiner Tour die Klamotten, bekämpfe den dumpfen pochenden Kopfschmerz (Dehydration?) mit den eiskalten Gaben der Minibar, genieße die Hausernte an Äpfeln und Birnen, die sie hier als Willkommensgruß hingelegt hatten und besehe mir im Spiegel meinen Schwachpunkt: Den Hintern.

Und wie gestern auch schon - nur noch schlimmer - zieht klar ein tiefroter Sattel markante Spuren über beide Backen. Au weia, denke ich - auch wenn es morgen die letzte Etappe wird, das wird keine leichte sein!

Doch nachdem ich eine halbe Stunde nackend auf dem Bett gelegen und gedöst hatte, zieht es mich in die Stadt. Zumindest ist es vorrangig der knurrende Magen, der mich treibt.

Und ich muss wieder einmal erkennen, dass meine Vorbereitung auf Sizilien Lücken aufweist. So sehe ich es erst, als ich es sehe, dass Taormina selbst eine Stadt ist, die durch den zweihundert, dreihundert Meter hohen Felsen in eine Unter- und eine Oberstadt geteilt ist.

Unten, wo ich bin, freilich, der langweiligere Teil. Aber oben, oben ist das, was man Altstadt und touristisches Zentrum nennt. Schnell aber finde ich heraus, wie ich am besten hinauf komme, denn nach Bergsteigen ist mir heute nun auch nicht mehr zumute.

Für 2 Euro ergattere ich einen tollen Fensterplatz an Bord einer Gondel der Seilbahn, die Unter- und Ober-Taormina miteinander verbindet. Die Fahrt ist sanft und doch beeindruckend. Eine junge Russin, die mit ihrem Millionär ebenfalls an Bord ist, quittiert den aufregenden Spaß mit dem einen oder anderen Jauchzen.

Oben angekommen bin ich geschockt: Massen an Touristen, die ich seit Venedigs Gassen oder Roms Collosseum nicht mehr in diesen Scharen gesehen habe, drängen sich an Andenkenläden mit allerlei Nippes und Tünnef vorrbei.

Ich höre das Geschnarre von Amerikanern, das Geschnatter von Russen und dann und wann auch das Ungehobelte meiner eigenen Landsleute. Allenthalben wird man angesprochen, sich doch diese Statue, jenen Schuhe oder diesen Hut zu kaufen.

Dieser Trubel widert mich an, dies ist genau die Art von Tourismus, die ich zutiefst verachte, ja, die mir körperlich dermaßen gegen den Strich geht, dass mir in diesen Situationen nur noch Restaurant-Schilder in deutscher Schrift, die mit Schnitzel und Pommes werben reichen, um durchzudrehen.

Und so suche ich mir ein kleines, veträumtes Ristaurante, eines, das etwas teurer ist, in dem ich aber nicht zusammen mit den Busladungen abgespeist werde, und genehmige mir ausnehemend wohlschmeckende Spaghetti alle Vongole.

Es dringt keine aufdringliche Popmusik oder theatralische Massenfolklore aus den Lautsprechern und das kalte Moretti erfrischt umso mehr, als dass ich hier unbeobachtet und unbelästigt meine brennenden Füße ausstrecken und weitab des Trubels einige Minuten ausspannen kann.

Herrlich!

Nun wollte ich mir noch das weltberühmte Theater aus der Römerzeit ansehen, für das Taormina so bekannt ist, nicht zuletzt auch, weil der Herr Geheimrat aus Weimar so schwärmt:
"Wenn man die Höhe der Felsenwände erstiegen hat, welche unfern des Meeresstrandes in die Höhe steilen, findet man zwei Gipfel durch ein Halbrund verbunden. Was dies auch von Natur für eine Gestalt gehabt haben mag, die Kunst hat nachgeholfen und daraus ein amphitheatralisches Halbzirkel für Zuschauer gebildet; Mauern und andere Angebäude von Ziegelsteinen, sich anschließend, supplierten die Gänge und Hallen. Am Fuße des stufenartigen Halbzirkels erbaute man die Szene quer vor, verband dadurch die beiden Felsen und vollendete das ungeheuerste Natur- und Kunstwerk. Setzt man sich nun dahin, wo ehemals die obersten Zuschauer saßen, so muss man gestehen, dass wohl nie ein Publikum im Theater solche Gegenstände vor sich gehabt."

Schön getextet - und gern hätt´ichs mir besehen, aber die 200 Meter lange, schnatternde Schlange und die 15 Euro Eintritt haben es mir vermiest. So gehe ich lieber in einsetzender Dämmerung nach Hause.

Oben auf dem Dach meines Hotels habe ich einen ähnlichen Blick in die Bucht - bestelle mir noch einen Salat, einen Viertelliter Wein und genieße den Sonnenuntergang, lehne mich zurück und werde mir der Tatsache bewusst, dass morgen schon die letzte Etappe dieser meiner italienischen Reise sein wird - etwas traurig bin ich, als die letzten Strahlen der Sonne aufhören, mich zu wärmen, und ich, vom Rotwein beschwipst meine Rechnung bezahle.

Und so liege ich - halb betrunken - wenig später in meinem Bett, drehe mich lieber auf die Seite, denn mein noch einmal frisch eingecremter Hintern soll sich bis morgen ja erholen, und nehme mir vor, meine morgige, letzte Etappe zu träumen.

Ruhmreich soll sie sein.
Episch.
Geradezu legendär.

Denn morgen, so denke ich mir, werde ich den König der Insel bezwingen. Morgen, schreibe ich mir auf meine Fahne, morgen werde ich den mächtigen Ätna umrunden.


Etappe 10 - Patti-Taormina

Etappenlänge: 139,50 km
Fahrtzeit brutto: 6 h 30 min
Fahrtzeit netto: 4 h 49 min
Schnitt:
28,2 km/h


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1 Kommentar:

  1. Das ist mein ganzes Leben. Ich wache morgens auf und kehren am Abend mit dem Fahrrad

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