Tappa 5: nach Rom

Ach, wie herrlich, denke ich mir, als ich die Vorhänge beisiete schiebe, aus dem Fenster meiner Burg-Kemenate blicke und die Sonne bereits hoch über der Ebene steht, die ich heute durchqueren muss - eine Etappe noch, eine nur, dann bin ich in Rom. Was für Aussichten!?

Ich frühstücke mit den beiden Amerikanerinnen, die sichtlich begeistert von meinem Cervélo-Rennradoutfit sind. Anscheinend kennen die beiden Sportler nur aus dem Fernsehen, vielleicht ein Grund dafür, dass sie mich so respektvoll behandeln. Wenn die nur wüssten, dass meine Etappe heute nur rund 50 km betragen sollte ... aber selbst läppische 50 km sind für die SUV-abhängigen Amis wohl eine Zahl der Unmöglichkeit.

Müsli, Kaffee, Wurstbrote, Säfte - das Büffet hat alles, was mein Herz begehrt und so hocke ich mich wohl genährt auf den schmalen Sattel meines Rennrades, verabschiede mich von dem wunderbaren Hotel, dessen Gast ich heute sein durfte und trete rein: Roma, die ewige Stadt ruft.

Die Abfahrt von Civita Castellana erfolgt auf der anderen Seite des Berges - die Straße, die ich mich gestern mit letzter Kraft hinauf gekämpft hatte, muss ich zum Glück nicht zurück fahren. Dafür belohnt mich der Etappen-Gott mit einer serpentinenreichen, steilen Abfahrt, die erstaunlicherweise vollkommen Autofrei ist.

Bis nah an die 70 km/h komme ich, kauere mich auf mein Rennrad, den Kopf ganz unten - nur ja so wenig wie möglich Luftwiderstand bieten!

Anscheinend bin ich aber noch nicht wach genug, denn als ich mich in eine der engen Haarnadelkurven hinein bremse, merke ich, dass die Kurve zu eng wird, ich zu schnell bin, erschrecke, ziehe zu hart an den Bremsen, diese beißen sich sofort in die Flanken meiner Laufräder, die wiederum blockieren - ich rutsche um die Kurve, drifte, unkontrolliert und danke herzklopfend Gott, dass er just in diesem Moment kein Auto auf der Gegenfahrbahn hat fahren lassen.

Denn sonst wäre ich jetzt tot.

AUFWACHEN!

Der Schreck sitzt tief, verfliegt aber schnell. Denn bald erreiche ich die weite Ebene vor Rom und fahre auf der SS3, einer kleinen Nebenstraße zur Autostrada, die - so versicherte man mir - relativ verschont vom alltäglichen Stauwahnsinn nach und von Rom bleiben sollte.

Bleibt sie auch - aber dafür müssen meine Laufräder und mein Hintern mit der schlimmsten Straße kämpfen, die ich seit der Wende 1989 gesehen habe: Der Straßenbelag ist so brüchig, dass es aussieht, als fahre ich auf einem lose zusammen gelegten Mosaik. Alle paar Meter klaffen dicke, lange, tiefe Löcher, die teilweise bis zu 20 cm tief ins Unterbett der Straße reichen, Löcher, die von unzähligen Regengüssen ausgewaschen sind und jeder Achse, die das Pech hat, durch sie rumpeln zu müssen, das Genick bricht.

Ich komme kaum über 20 km/h und muss alpines Slalom fahren, um mir nicht mein Carbon zu ruinieren. Die SS3 nach Rom ist die Hölle!

Es dauert eine geschlagene Stunde, bis ich, in einem Dorf auf eine größere Straße abbiegend, endlich befahrbaren Asphalt unter die Pneus bekomme - dafür finde ich mich in einem nicht enden wollenden Strom stinkender Blechdosen wieder: Rom lässt grüßen!

Zunächst mache ich eine kleine Pause an einer Tanke, fülle die schon arg lädierten Trinkvorräte auf, esse eine Kleinigkeit und stürze mich in den Stau: Rechts überholen gehört zum Guten Ton hier in Italien und so huste ich mich vorsichtig an der Autoschlange vorbei - freilich auch nicht ohne ab und zu wieder von der Schlange überholt zu werden.

Es muss gleich hier irgendwo sein! Hier irgendwo ist Rom!, denke ich mir, als die Straße irgendwann wieder wie eine Autobahn aussieht, die Fahrstreifen geteilt werden, links und rechts Schallschutzmauern emporwachsen, die mich überholenden Autos immer schneller werden und das alles nun langsam gar nicht mehr nach ländlicher Italoidylle aussieht, sondern nach europäischer Großstadt mit Verkehrskollaps.

Doch es hat alles auch seine Vorteile: Endlich kann ich wieder mal an der 30er-Marke kratzen, kann reintreten und mein Rennrad auch als solches benutzen! Rasant geht es die sich behäbig mal nach links und mal nach rechts windende Straßenschlucht.

Dann kommt ein Tunnel, lang und dunkel ...

... und auf ein mal bin ich in Rom! Mitten drin! Unvorbereitet, kein Hinweisschild, kein Ortseingang, kein nichts: Ich schieße aus dem Tunnel, von links und rechts, von oben und unten kommen Straßen um in meine SS3 zu münden, Autobusse, Transporter, Heerscharen von Rollern und Autos en mass drängen sich auf einmal auf die Fahrspuren, alles hupt, alles gestikuliert, alles drängelt und schiebt und das, das ist nun Rom! AchdumeineGüte!, denke ich hastig und kann gar nicht so schnell denken, wie ich mit diesem babylonischen Verkehrschaos klarkommen muss.

Den Herrn Goethe freilich hat kein dunkler Straßentunnel und wilde Fahrmaneuver geschockt - sein Einritt in die Stadt verlief behäbiger:

"Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, dass kein Bleiben mehr war. Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt."


So ruhig wie ihm ergeht es mir nicht. Auf Pedalen stehend muss ich mich durchs Chaos kämpfen - und habe keinen blassen Schimmer, wo ich überhaupt bin.

Ampeln sind wohlgemeinte Ratschläge. Ein Rot ... nun, sagen wir, Rot empfiehlt, jetzt vielleicht einmal anzuhalten. Woran sich natürlich kaum einer hält. Der Italiener bleibt bei Rot erst dann stehen, wenn die anderen losgefahren sind. Solange die Kreuzung noch frei ist, fährt er.

Okay, das habe ich schnell begriffen und halte mich daran.

Fahrbahnmarkierungen sind, nun ja, Hinweise, wie man den zur Verfügung stehenden Asphalt nutzen könnte. Aber die Stadtverwaltung hat natürlich nicht mit der Cleverness der Auto-, Bus- und Scooterfharer gerechnet, denn die Fahrbahnen sind ja viel zu breit, als dass man nur zu zweit nebeneinander fahren könnte. Nein, der Italiener nutzt die zur Verfügung stehende Breite der Straße viel effizienter und fährt zu viert nebeneinander auf 2 Spuren.

Ah, jo, auch begriffen, kein Problem!

So kämpfe ich mich etwa eine halbe Stunde durch das hupende, lärmende Chaos dieser Metropole, bin noch ganz begeistert von dem Fakt, dass ich - als ordnungsliebender und gesetzestreuer Deutscher, noch dazu als Sohn eines Polizisten - nicht einen Unfall sehe, als ich den Tiber erreiche.

Tiber, Wasser- und Lebensader der Stadt. Der Fluss, der mich ins Zentrum bringen wird. Denn Orientierung habe ich schon lange keine mehr. Und zum Schilderlesen bleibt bei diesem Verkehr keine Zeit - einmal unachtsam nach oben geschaut und man findet sich unweigerlich unter einem der stinkenden Dieselbusse wieder.

Wie von Zauberhand, ungeplant und umso faszinierender, steige ich irgendwann vom Rennrad, drehe mich um und ... raste genau am Eingang zur Engelsburg. Na, das nenne ich Intuition!

Ich habe die Straße, zu der ich muss, auf einem Google-Ausdruck dabei, aber ich bin so überfordert von den Eindrücken hier, dass sich mein Hirn weigert, mir mit Denkoperationen zur Verfügung zu stehen.
Ich gebe meine Navigations-Bemühungen auf und frage einen der vielen Carabinieri, die an einer Kreuzung stehen. Der lächelt und deutet auf die gegenüberliegende Straße: Zum Campo di Fiori sind es wohl nur einige hundert Meter.

Ich müsse nur den Tiber überqueren und ein paar Minuten laufen.

Ich freue mich, schon wieder eine Superintuition gehabt, schicke Vittorio, dem Vermieter meines Studios, eine SMS, dass ich bald da sein würde, und schiebe klackernd mein Rennrad über die huckelige, historische Steinpiste dieser - jetzt schon vollkommen faszinierenden - Stadt.

Italiener sind Rennradverrückt. Das weiß ich - nicht umsonst gilt der Giro d´Italia den Stiefelbewohnern als heilig. Zwar erlebt der italienische Rennradsport eine ähnlich tiefe Krise wie der bei uns in Deutschland - aber weniger aus den Gründen, die hierzulande eine ARD zum Ausstieg aus sämtlichen Rennsportaktivitäten bewegt hat, sondern vielmehr an einem vollkommen kaputten Nachwuchssystem, das seine Fahrer schon verschlissen hat, bevor diese überhaupt Profis sind.

Und so verwundert es dann auch nicht, dass ich hier kaum Fahrräder - geschweige denn Rennräder - sehe. Vielmehr reiht sich ein Scooter an den anderen.

Ich durchquere malerische Gassen. Wow, denke ich mir und kann meinen Mund vor lauter Faszination gar nicht schließen - das ist Rom? Fast komme ich mir vor wie in einem dieser kleinen malerischen Dörfer einer arte-Dokumentation über kulinarische Köstlichkeiten der entlegendsten europäischen Regionen - nicht aber wie mitten in Rom.

Laut ist es, geschäftig auch. Aber in manchen Gassen ist es nur das Klackern meiner Cleats, das Geräusche macht. Wo ist denn nun mein Loft?

Endlich - nun ja, sagen wir, keine 45 Minuten später als verabredet - kommt Vittorio zum Campo di Fiori, begrüßt mich überschwänglich und nickt mir anerkennend zu:
"Did you ride in Rome with your Bike?", fragt er.
"Of course!", antworte ich. Und ich weiß, was er jetzt denkt ... verrückter Deutscher, du hast ja keine Ahnung, wie viel Glück du hattest!

Wir gehen weitere 400 Meter, biegen um einige Ecken und stehen irgendwann vor einem Haus, das die selbe Farbe wie Vittorios perfekt sitzendes Hemd hat: "Here is your studio", sagt er und hebt die Hand.

Er schließt das Appartment im ersten Stock eines schmalen Hauses auf. Eine Zweizimmerwohnung, sehr schick eingerichtet, eine Pantry-Küche - der Kühlschrank ist voll - ein Duschbad, ein Futonbett und eine Sitzecke. Der ganze Spaß für 100 Euro die Nacht.

Perfekt!

Vittorio wünscht mir einen schönen Aufenthalt in Rom, verabschiedet sich, steckt seine 200 Euro ein und braust - na klar - auf einem Scooter davon.
Ich öffne erst einmal alle Fenster. Der Lärm der nahen Magistrale stürzt in die Wohnung, so aber auch die Hitze des Mittags und der Smog dieses Molochs.

Duschen!

Keine 2 Stunden später bin ich wieder unterwegs. Erstaunlich, dass es bis zum Collosseum keine 2 Kilometer sind. Es ist Nachmittag, eigentlich will ich bis morgen warten, um meinen Ruhetag für einen Rundumschlag durch Rom zu nutzen, aber es brennt so in mir. Ich will es sehen! Will, will!

Fast überglücklich schlendere ich das Forum Romanum entlang. Hier also. Hier also war es vor 2.000, 2.300 Jahren, wo die fast schon mythischen Römer den Grundstein für ihr Reich gelegt haben, das ganz Europa noch heute so prägt. Hier war es, wo sie alle - Nero, Caesar, Trajan und wie sie alle heißen, geherrscht haben. Nein - wo sie selbst gewandelt sind. Ihre Füße, ihre wahrhaftigen Füße auf diesen blanken Marmorsteinen da unten.

Faszinierend!

Das Collosseum haut mich um. Es ist größer, schöner, beeindruckender als ich es mir jemals vorgestellt habe. Es ist bewegend, ergreifend. Wenn man an den Flanken dieses Stadions hinauf blickt, kann man nur staunend "Ahhh" sagen. Mehr nicht.

Mehr ist nicht zu machen. Unerhört diese Leistung. Unerhört und unermesslich die Zeiten, die in diesen Steinen stecken. Unglaublich. So wundervoll. So inspirierend.

Ich erinnere mich, wie ich damals in der fünften Klasse in der Schule saß und im Geschichtsunterricht alles förmlich verschlungen hatte, was die alten Römer anging. Romulus und Remus, der Gründungsmythos dieser Stadt, Aufstieg zur größten Macht der Welt, die Eroberungen, die Kaiser und Tribune, der Limes und schließlich der Niedergang der Republik, das zersplitterte Reich, aufgegangen in Ost- und Westrom.

Und nun? Nun stehe ich hier. Endlich, fast 30 Jahre später, sehe ich alles mit meinen eigenen Augen: Collosseum, Forum Romanum, Tempel, Säulen. Ich bin angetan. Sprachlos.

Als die Sonne langsam unterzugehen beginnt, mache ich mich auf den Heimweg. Nicht ohne vorher im Carrefour-Supermarkt einige Leckereien für eine zünftige Pasta einzukaufen.

Zuhause läuft auf Eurosport - na klar - Radsport, auf dem Herd tanzen Spaghetti im kochenden Salzwasser während ich halbnackt mein Cervélo putze und ein eiskaltes Nastro Azzuro trinke.

Sicher, die Etappe heute war nicht der Rede wert. Aber heute war auch kein Rennrad-Tag. Heute war der Tag, an dem ich in Rom, der Stadt der Äonen, eingeritten bin und für einen kleinen Moment wieder Kind sein durfte.

Mit Träumen.
Mit Geschichten.
Mit Helden und Mythen.

Morgen, das weiß ich, als ich gegen 22 Uhr die dünne Decke über mich ziehe und versuche, trotz des Lärms einzuschlafen, morgen werde ich mir die Füße wund laufen und alles mitnehmen, was mir diese tolle Stadt hier bieten kann.


Etappe
5 - Civita Castellana-Rom

Etappenlänge: 55,06 km
Fahrtzeit brutto: 2 h 30 min
Fahrtzeit netto: 1 h 56 min
Schnitt:
27,8 km/h


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