Tappa 3: nach Foligno

"Guten Morgen, liebe Sonne!", frohlocke ich, als ich morgens aus meinem Fenster blicke und das mächtige Zentralgestirn unseres Sonnensystems sich anschickt, gerade hinter den ausgeblichenen Dachschindeln meines Vorderhauses aufzugehen.

Na, wenn das mal kein gutes Omen ist, oder?

Ich schalte mein Handy an und eine SMS meiner Süßen trifft ein - sie ist ganz aufgeregt, denn heute wird sie einchecken müssen zu ihrem großern Flug nach China. Ich grinse, schicke ihr einen elektronischen Kuss und mache mich - wieder einmal als erster Gast des Hotels - über das frische Büffet her. Leider ist die Morgenmahlzeit in der Albergo Bice nicht so toll, wie das Abendmahl hoffen ließ: Auch wieder nur Süßkram und Müsli. Keine Wurst, kein Schinken. Vollkorn? Fehlanzeige.

Na, wenigstens der Kaffee - wie überall in Italien - ist eine Wucht.

Wenig später sitze ich im Prologo-Sattel meines Cervélo-Renners, den Sack geschultert, 1,5 Liter Apfelsaftschorle in den Tanks unter mir und so lenke ich mein Rennrad auf die Straße. Direkt vor der Albergo muss ich nur links abbiegen - schon bin ich auf der Straße, die mich zum heutigen Etappen ziel bringen wird: Nach Foligno, dem Herzen Umbriens.

In die Berge wird es heute gehen, meine erste Etappe mit permanenten Steigungen und - wie ich zumindest hoffe - einigen leckeren Abfahrten. So verlasse ich die Adriaküste, sage Lebewohl zu Senigallia und trete rein.

Direkt am letzten Haus der Stadt geht es dann auch schon los: Die Straße zieht merklich - jedoch nicht hart, an. Es geht also wirklich ab den ersten Metern bergauf.

Early Bird catches the worm ...

Ich komme gut voran. Es ist noch sehr früh, wie gehabt sind kaum Autos unterwegs, es weht ein leichter Wind von vorn, der aber wenig bremst, mich eher angenehm kühlt. Die Sonne steht schon recht hoch, blendet auch zeitweilig, wenn sie zwischen den Bäumen und dem Blätterwerk in Myriarden von Schattenspielchen hervorblitzt, aber es ist noch recht frisch.

Mit optimistischen 28, 29 km/h kann ich bergan treten - leider ist die Straße in einem denkbar schlechten Zustand, sodass mein Fortkommen ab und an an Cross oder Trial, denn an Rennrad erinnern mag.

Trotzdem: Eine sonderbare Euphorie keimt in mir. Und ich fühle: Der frühe Vogel - also ich - wird heute einen dicken Wurm bekommen!

Schnell erreiche ich kleine Orte wie Ostra oder Ostra Vetere, links und rechts von mir falten sich erst kleine, dann, kaum merklich, immer größer werdende Hügel auf. Landwirtschaft wird hier betrieben - ich kann Weinhaine sehen, Felder mit Salat, Tomaten und grünem Korn, auch sehe ich vereinzelt Obst- und sogar erste Olivenbäume.

Mein Landsmann Goethe kam hier leider nicht vorbei - er hatte eine eher, na, sagen wir, kulturellere Route über die Apenninen gewählt: Klar, denn Perugia durfte sich der Herr Geheimrat nicht entgehen lassen. Aber das kann ich verstehen: Was sollte der geniale Verfasser des Dolktor Faust auch am Strand von Rimini? Keine Sorge, weiß ich, denn ich werde seine Reiseroute schon noch wieder kreuzen.

Leichter Nebel liegt noch über feuchtem Grund, bunte Schachbrettfelder flickern mit der Sonne in meinen Augenwinkeln um die Wette und langsam merke ich dann auch das Zwicken der Steigung in meinen Waden.

Ich trinke viel - alle 15 bis 20 Minuten nehme ich ein, zwei kräftige Schlucke aus meinen Flaschen. Manchmal gibt es engere Kurven, die sich dann auch, Serpentinen vorausnehmend, kleine Hügelchen hinauf falten, und wenn ich an deren Rand fahre, kann ich links und rechts von mir schon stattlich weit in die Täler Umbriens schauen. Ein herrlicher Anblick.

Manchmal aber geht es auch einfach nur einige Kilometer schnurgeradeaus. Dann säumen schlanke Pappeln meinen Weg, spenden Schatten und ich kann deren Blättergeraschel kaum vom Surren meiner Dura Ace unterscheiden.

Wie alt mag diese Straße hier sein?, denke ich mir, und versuche mir vorzustellen, wie Roms Legionen hier vor zweitausend Jahren mit Mann und Gepäck in die Provinzen ausgezogen sind, wie hier vielleicht der eine oder andere Apostel des Weges kam und - da! - vielleicht hat an dieser Brücke, an diesem Stein Caesar gestanden und eine Banane gegessen?

Bananen! Wie ich diese Energie spendende Wunderfrucht vermisse! Täglich vier bis sechs Stück dieser krummen, kaliumhaltigen Südfrüchte haben mich vor einem Jahr über die Rocky Mountains getragen - hier in Italien habe ich noch nicht eine dieser Powerbomben gegessen. Oder "essen müssen", sollte ich fast sagen: Bin ich denn wirklich besser in Form, dass ich auf sie verzichten kann?

Ein weiterer lang gezogener Hügel reißt mich aus meinen Radtrance-Überlegungen.

Ich passiere den Abzweig nach Montecarotte, habe schon über 30 Kilometer auf dem Tacho, genauer gesagt, auf meinem Garmin Forerunner, und eigentlich ist meine erste 30er-Pause fällig. Aber es rollt gerade so gut. Ich komme so gut voran - nee, denke ich, anhalten, das kann ich immer noch später.

Ein Anstieg zum Abschied

Dann signalisiert mein Handy eine SMS. Ich fummle das Teil umständlich aus meinem Trikot und lese bei Tempo 25, dass meine Maus nun den Flieger besteigt. Letzte SMS aus Deutschland. Ich grinse, Schmerz und Freude quellen gleichzeitig in mir hoch, ich habe den Impuls, sie anzurufen, die letzte Chance, diese feine, diese meine Stimme noch einmal zu hören, ein Gruß zum Abschied, nur kurz, nur schnell, zum Abschied ... als die Straße sich auf ein mal nach oben biegt.

Merklich zieht sie an, ich muss ein, zwei Gänge nach unten schalten. Ich lege das Handy zurück ins Trikot, weg der Abschiedsschmerz, weg mein Mädchen - da hat mir jemand den Krieg erklärt. Und mit Bergen verstehe ich keinen Spaß.

Vor mir liegt Arcevia. Oben auf dem Berg eine stattliche Burg, ein Kloster oder ähnliches, die Straße scheint auf ssie zuzulaufen, wird den Berg aber umrunden. Hoffe ich.

Schnell komme ich näher, bilde ich mir ein, doch nur langsam wächst die Burg vor mir, gewinnt an Konturen, wird größer und größer. Und was von Weitem schon sehr imposant ausgesehen hat, wird nun alle hundert Meter noch beeindruckender - eine Wehranlage, die sich sehen lassen kann. Wartburg-Ausmaße, beeindruckend!

Immer wieder muss ich meinen Kopf anstrengend nach oben biegen, um diese Burg zu bestaunen.
Mir nurmehr 15, dann 13 km/h kurbele ich mich die Steigung, die sich eng an den Burgberg legt, empor, umrunde so die halbe Anlage und stürze mich dann atemlos in die erste Abfahrt dieser meiner Tour durch Italien.

Vor mir ringelt sich die Straße stark abwärts fallend in eine lange lange Rechtkurve. Ich schalte hoch, beschleunige so gut ich kann, erreiche die maximale Drehzahl meiner Kasette und gehe in Untenlenkerhaltung. Dann konzentriere ich mich darauf, die optimale Linie zu finden, koordiniere den Wechsel zwischen Links- und Rechtskurve, versuche so wenig wie nötig zu bremsen und jauchze kurz auf, lasse nur einen Moment meine Konzentration locker, um diese Abfahrt zu genießen - Wow, was für ein Gefühl!

Mein Herz pocht, meine Räder fauchen nur so durch den Wind, nur der Freilauf rasselt surrend unter mir, sonst Stille, ich kann sogar Vögel zwitschern hören, als ich ins Tal zwischen den beiden Bergen hinabsause, mir der Fahrtwind die heiß gelaufenen Knie kühlt und den Schweiß auf der nackten Brust trocknet.

Nach einigen Minuten ist alles vorbei - aber ich freue mich so, Adrenalin schießt mir zu den Ohren hinaus. Es sind diese Momente, die die Qual einer Steigung vergessen machen!

Hinter der Burg fahre ich einige Kilometer mit leichter Abwärtstendenz durch eine Ebene, links und rechts von schon etwas höheren Bergen gesäumt. Am Ende eine Bergkette, die mir den Weg versperrt - hier werde ich wohl hinüber müssen!

Eine Männerserpentine bitte

Und dann kommt sie, die erste richtige Serpentinensteigung, der erste kleine Pass, der erste große Aufstieg von ganz unten nach ganz oben: Ein paar Kilometer hinter Arcevia. Ein Berg wie eine Mauer türmt sich vor mir auf. Mittlerweile ist es kurz vor 12, Mittagszeit also, ich ohrfeige mich, klaro, denn ich habe natürlich keine Pause bei Kilometer 30 gemacht und demzufolge nur noch einige Tropfen Feuchtes in meinen Flaschen.

Ich schaue auf ein Verkehrsschild: "6 Schleifen" steht dort, auch wenn ich kein Italienisch spreche, sehe ich sofort, was mir das Schild sagen will. 6 Mal Spitzkehre. 6 Mal leiden. Na denn!

Dieser Anstieg ist nichts für Schwächlinge, das merke ich gleich. Es geht von den ersten Metern ab fast senkrecht nach oben. Selbst meine - wie sagte mein Rennrad-Verkäufer so schön? - "Kletterhilfe", das kleinste Ritzel also, ist hier an der Belastungsgrenze.

Ich gehe ab und zu in den Wiegetritt und schon schmerzen nach wenigen Metern die Waden. Es ist anstrengend wie nie, sich diese mindestens 16 % hinaufzuschieben. Selbst meine härtesten Etappen durch die Serra del Estrellas in Portugal, die fiesesten Berge in Japan oder selbst die zwei 1.300 Meter hohen Pässe in Kanada kommen nicht an dieses kleine Sträßchen in Umbrien heran: Das Ding verlangt alles!

Am schlimmsten ist es in den Spitzkehren. Hier steigt der Gradient auf zweitweilig über 20% und man muss aufpassen, genug Schwung zu haben: Selbst, wenn ich hier schnell genug ausklicken könnte, um anzuhalten: Ein erneutes Anfahren wäre bei dieser Steigung unmöglich!


Die ersten drei Spitzkehren meistere ich. Gerade so. Dann muss ich anhalten, rette mich in einen Schatten, klicke aus, stelle das Rad ab und brülle "Fuck-o-mio grande!" in die Schlucht.
Alter Schwede - was ist das denn? Denke ich mir uns schaue auf die Straße. Klar, steil ist das hier wie Hulle, aber SO?

Ich denke an mein Liegerad und wie ich damit die Steigungen gefahren bin. Dort hatte ich einen Rohloff Speedhub montiert, der mich die steilsten Anstiege mit minimal 6 km/h hochkurbeln ließ. 6 Kilometer in der Stunde - ich erinnere mich gut an den Coquihalla-Pass in Kanada. Eine ganze Stunde und noch mehr konnte es dauern, bis ich den Berg gemeistert hatte. Unendliche Kurbelarbeit.

Und nun, mit Rennrad und "Kletterhilfe"? Ich staune, als ich ein paar Minuten später wieder wiegetretend in der Steigung stehe: Satte 15 km/h mache ich - also kommt man mit dem Rennrad doppelt so schnell den Berg hoch, wie mit einem Liegerad.

Dass der Wiegetritt so viel ausmacht, hätte ich nicht gedacht!

Hinter dem Berg geht es nur leicht wieder bergab. Enttäuscht und betrogen ob meines Steigungslohns kämpfe ich mich unter der nun prall scheinenden Sonne hinturch. Kein Schatten spendet Kühle, die Trinkflaschen sind fast leer.

Vor mir liegt wieder eines dieser umbrischen Täler: Links und rechts, nicht sehr weit entfernt, einige Berge, sanft auf und abhebend eine Art Ebene, die immer wieder von Wellen durchbrochen ist. Landwirtschaft, kleine Bauernhöfe und ab und zu mal ein kleines Dörfchen ... FUUUIIIIIIII! ... macht es da auf ein mal.

An mir sausen "Ciao!" brüllend etwa 30 Rennräder vorbei. Ein ganzes Peloton, verfolgt von einem Mannschaftswagen mit bunten Aufklebern. Bevor ich die Hand heben kann, sind die Jungs vorbei. Oha.

Es riecht nach Kardamom, nach Koriander, so intensiv, dass ich mir vorkomme wie in einer dieser engen Seitenstraßen in New Yorks Chinatown. Einen so intensiven Geruch habe ich von einem Feld noch nie wahr genommen. Ich halte an und stehe an einem Zwiebelfeld mit Blüten so groß wie Kindsköpfe. Fast könnte ich mich in meinem Sonnenwahn vorstellen, dass es sich um Millionen Mikrophone handelt, die mir hier entgegen gehalten werden, um ein Statement zu erhaschen.

Umbria, mio Umbria!


Es wird steiler. Die Hänge, an denen ich fahre, fallen fieser ab. Die Steigungen selbst werden länger und länger und die Ausblicke, die ich nun genießen kann, umso spektakulärer. Ich bin nun mitten drin, in Umbrien, denke ich mir, als ein, zwei Tropfen Schweiß von der Nase perlen.

Die Leute in Senigallia haben mir empfohlen, über Cheggia zu fahren. Irgendwann stehe ich am Abzweig dorthin und habe die Wahl. Die Straße, die ich auch fahren könnte, führt weiter über annehmbares Terrain, soweit ich das sehen kann.
Die andere, über Cheggia, schlängelt sich erst einmal aufwändig vor mir einen Bergrücken empor.

Also nicht über Cheggia.

Ich bereue meine Wahl nicht. Weiter geht es in mäßigem Tempo - immer rund um die 30 km/h - über die eine und die andere Welle. Orte mit so schönen Namen wie Nocero Umbra passiere ich, ab und zu mal ein Auto, sehr sehr wenig Verkehr, was an der Mittagshitze und der Abgeschiedenheit dieses Landstriches liegen mag.

Meine Laune ist bestens, obwohl sich zusehends der Straßenbelag verflüchtigt. Leute, unsere deutschen Katastrophenstraßen sind der reinste Luxusbelag gegen das Aspahltpuzzle, über das ich hier in Crossermanier holpern muss!

Ich kämpfe mich mal wieder einen dieser kurzen, aber giftigen Berge hinauf, als ich zu erst einen Eremiten überhole. Weißbärtig, mit Wurzelholzstock und nichts weiter dabei als der Jute auf seinem Körper, läuft er gemütlich. Ein Pilger?

Oben auf der Steigung kommt mir ein Rennradler entgegen. Blass und verschwitzt - er hat gerade erklommen, was ich gleich hinabsausen werde. Wir grüßen uns - dann erreiche ich den Gipfel, gebe Gas und kann eine halbe Minute 60 km/h genießen. Bis die nächste Welle kommt.

Wenn ich nach Foligno will und nicht über Cheggia, dann muss ich über Fabriano. Das geht so ganz glasklar aus meiner Karte hervor. Ich kämpfe mich einige Wellen, vielleicht ein Dutzend, weiter durch die flirrende Hitze, mein Trikt ist mittlerweile wieder ganz geöffnet, aber der Kühleffekt eher bescheiden.

Jeder Truck, der mir entgegen kommt und durch dessen Fahrtwind ich eine gescheuert bekomme, ist mir willkommen: Kühle! Egal, ob mich das jedes mal um 5, 6 km/h abbremst. Manchmal aber kommt für eine Viertelstunde kein einziges Auto. Es weht kein Lüftchen. Nur ich, mein heißer Atem und mein Hintern, der sich langsam auch wieder meldet.

Dann endlich eine Pause. Die Tankstelle ist gut besucht, eine Bande alter Herren hat es sich am Nachbartisch bequem gemacht und lamentiert über dieses und jenes.

Ich trinke erst einmal meine obligatorische Flasche Eistee, esse dazu ein riesiges Baguette mit einer Zentimeterschicht Parma-Schinken. Das ganze Baguette kostet 1,20 Euro. Wahnsinn, denke ich mir ins Geschnatter der Jungs nebenan: In Deutschland zahlt man für eine Nanometer dünne Scheibe Parma einen Höllenpreis - hier knallen sie dir das Zeug wie Maurermörtel um die Ohren!

Die Flaschen aufgefüllt, abgekühlt und schnell noch hinter die Tanke gepieselt, so sattle ich mein Pferd, schnalle mir den Rucksack um und trete rein - Hitze, aus dem Weg! Ich will nach Foligno!

Kann ja auch nicht mehr weit sein: Immerhin bin ich gleich in Fabriano und dann muss ich noch ein mal eine Bergkette überqueren - that´s it!

Really?

Als ich endlich in Fabriano ankomme habe ich ein Grinsen auf den Backen: Die letzten 6 Kilometer ging es seicht, aber merklich bergab. So merklich, dass ich schön gemütlich mit 35 Sachen die gröbsten Schlaglöcher noch umschiffen konnte - und dabei doch in Racermanier zunächst am Riesenwerk des Haushaltsgeräteherstellers Indesit vorbeifliege und wenig später am großen Rondell von Fabriano ankomme.

Und stutze.

Auf keinem der Schilder ist Foligno ausgewiesen. Äh, hallo?

Da stehe ich in der Hitze des Tages am großen Rondell und bin falsch. Irgendwie.
In einem Harleyshop weit weg lachen sie. Die fiese Art. Die Art, bei der man heraushören kann: "Ah, schon wieder so ein Trottel, der hier die Abfahrt runterpeest und keine Ahnung hat."

Einer der Rocker kommt zu mir, geht mit mir vor die Türe und zeigt es mir.
Sein Finger geht bergauf.
Die Strecke zurück, die ich runter kam.
Irgendwann, sagt er, da oben, da geht es nach Rom. Und da müsse ich abbiegen.

Ah. Toll.


Schicksal ergeben und etwas sauer auf mich selbst, prügele ich mich die Steigung wieder hoch. Na, 12 km Umweg, da hatten wir schon Schlimmeres! Denke ich mir und trete rein.

Leck mich am Arsch ist das heiß! Meine Waden ersticken unter der Schicht Sonnencreme, oben auf wie Perlen eine noch dickere Schicht milchig-weißen Schweißes, immer wieder unterbrochen von feinen schwarzen Staubpartikeln von Straße und Auspuff.
Herrlich.

Die erste Trinkflasche ist auch schon wieder alle.
Nach einer schieren Ewigkeit dann das Schild - tatsächlich, nach Roma muss ich.

Geradeaus Sassoferrato, wie die Monstersteigung mich vorhin fast umgebracht hat, und nun also nach Roma. Das erste mal auf meinem Trip, dass ich ein Schild zur Hauptstadt Italiens sehe. Hallo, Premiere!

Rom, da will ich in 3 Tagen sein. Rom, da will ich einen Ruhetag einlegen ... Ruhe ... Ruhe ... wie fern das doch klingt! Nicht treten zu müssen, nicht in gebückter Haltung auf 700 Gramm Carbon zu hocken, das kommt mir vor wie ein fremdes Konzept einer noch fremderen Kultur.
Ich bin zum Radfahrer geworden. Zum Nomaden. Verschmolzen mit meinem Gefährt. Eine andere Fortbewegung als jene, bei der mal kurbeln muss - undenkbar für mich!

Tja. Und dann kommen sie. Die echten Berge. Die, die für Männer geschaffen sind. Die, die ich wahrscheinlich auch bekommen hätte. wäre ich über Cheggia gefahren. Da faltet sie sich vor mir auf, die Erde. Da hören Felder und Dörfer abrupt auf, jegliche Zivilisation endet. Ich fahre auf dem kleinen Blatt, wähle einen kleinen Gang. 20 km/h, so geht es empor, ab und zu muss ich schlucken - Druck auf den Ohren. Steigung in den Beinen während meine Beine die Steigung hinauf kriechen.

Atemberaubend schön hier. Thüringer Wald. Alpen. Rockies. So sieht es hier aus - nur ohne Schnee auf den Gipfeln. Feuchte, sattgrüne Wälder, es duftet, an Abhängen kurbele ich mich entlang, schraube mich höher. Und mit jedem Meter entkoppele ich mich mehr denn je der Zivilisation, die hier, in Umrbien, sowieso sehr weit weg scheint.

Allein. Idylle im Schmerz. Es ist ein Traum!

Ich weiß nicht, wie lange ich mich den Berg hinauf kämpfe. Es geht in lang gezogenen Kurven am Abhang entlang. Mal ist der Berg rechts, mal links. Mal kann ich fast senkrecht nach unten Blicken, wenn ich meinen Kopf drehe, mal warnen mich Schilder vor Steinschlag von oben. Klopf auf Holz, denke ich mir - ich habe ja einen Superhelm!

Saudumm!


Und dann erreiche ich ihn, den Scheitelpunkt. Ich merke es, weil es immer einfacher wird, zu treten, weil ich hochschalten kann, weil aus 20 km/h plötzlich 25 werden und dann 30.

Ich bin oben. Ein letztes mal Schlucken, ein letztes mal einen Schluck aus der Flasche nehmen und dann rolle ich um die Kurve und sehe ihn: Den Eingang zum Tunnel.

Na hossa!

Ich sause in die Röhre - erst langsam, denn es geht ja noch bergauf. Mich umfängt Stille und Schwärze, augenblicklich kann ich nichts mehr sehen. Der Tunnel beschreibt eine Kurve, weshalb ich auch kein Licht am Ende wahrnehmen kann. Ein mulmiges Gefühl kriecht in mir hoch, wie immer, wenn ich durch Tunnels fahre. Ich kenne das zwar schon zur Genüge aus diversen Tunnelabenteuern, vor allem Kanada und Japan hatten da einiges zu bieten, aber von Routine wage ich nicht zu sprechen - Tunnel sind immer wieder aufregend, im negativen Sinne.

Ich versuche, so weit wie möglich rechts zu fahren. Zu weit nicht, wenn ob da unter mir Glasscherben, Löcher oder Gullys sind, vermag ich nicht zu sehen. Zu weit links, und die Autos oder gar Trucks habe eine gute Chance, mich mitzunehmen.

Ich beschleunige, merke, dass ich schneller kann - es geht abwärts. Ich schalte hoch, dann aufs große Blatt - wie schnell mag ich jetzt sein? 40, 50? Keine Ahnung. Die spärliche Beleuchtung über mir hört auf, keine Lampen mehr, dafür sehe ich jetzt das Tageslicht - da ganz hinten.

Dann rauscht ein Auto an mir vorbei, dann noch eines. Durch den Widerhall in den Tunnelwänden klingt es wie Teenie-Geschrei bei einem Tokio-Hotel-Konzert. "Kein Licht!", rufe ich mir selbst zu, als mich die Erkenntnis durchzuckt, dass ich ja nicht mehr in meinem Liegerad-Reiseraumschiff mit SON Edelux und Automatiksensor liege, sondern auf einem vollkommen reflexionslosen Rennrad ohne jegliche Beleuchtung.

Ah, nee, meine Sidis haben ja an der Sohle eine kleine Reflexionsschicht - das wird schon helfen!
Dann schieße ich endlich aus dem Tunnel. Wow! Was für eine Fahrt, zittere ich in die mich willkommen heißende Hitze der anderen Seite! Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen, der alte Fehler: Ich Vollhonk hatte die ganze Zeit meine Sonnenbrille auf! Leeeeuuuute, bitte!

Aber zum Überlegen bleibt nicht lange Zeit, denn mein Rad stürzt sich freudig drehend in die Abfahrt. Es geht einige Minuten mit rund 60 km/h - mehr leider nicht wegen des Gegenwinds - in lang gezogenen Kurven bergab. Ich genieße die Zwischensprints, bin die ganze Zeit in Untenlenkerposition und freue mich, denn das ist wirklich der Lohn für den mühsamen Anstieg. Manchmal kann mich der Windschatten eines Transporters einige hundert Meter mitziehen, manchmal schieben mich die Luftwirbel von Trucks kurzzeitig ruckartig mit.
Wundervoll.

Nach rund 15 Minuten bin ich unten, komme aus den Bergen geschossen und finde mich in einem breiten Tal wieder. Wie ein Schlauch schlängelt es sich durch die flankierenden Berge, die es von der Außenwelt abzuschirmen scheinen.
Bis Foligno nur noch 20 Kilometer.

Ich fahre parallel zu der Autobahn, die nur wenige hundert Meter neben mir topfbodenflach schnurgerade durch die Landschaft schießt. Mein Glück, denn so bleibt die Landstraße relativ leer und ich kann die Fahrt genießen - mein Pech, denn die Landstraße macht jeden Hügel mit, reitet jede Welle ab und wartet nicht selten mit - zwar meist nur einhundert Meter langen - bissigen Rampen auf. Es ist eine Art Stop-and-Go Verkehr, an runden Tritt ist nicht zu denken.

Und dann kommt ein Regenschauer.

Streik
der Muskeln

Meine Laune hat sich, nachdem ich wieder halbwegs trocken bin, nur mäßig wieder angehoben. Über mir hängen dicke, buschige Wolken, es ist heiß, aber sehr feucht, es dampft und rumort, die heißen Steine und der Asphalt dünsten H2O aus und meine Lungen pfeifen auf dem letzten Loch. Selbst der eisgekühlte Eistee, den ich mir gerade an einer Tanke geholt habe, ist schon fast gekocht. Es fängt an, zu nerven.

Da fasse ich mir ein Herz, "Scheiß drauf!", brülle ich in die wunderbare Landschaft und biege ab. Auf die Autobahn. Denn die Hügel da vor mir, nee, lasst mal, jetzt noch Serpentinen und solche Späße? Nicht mit mir!

Und wieder: Seitenstreifen - reingetreten, Augen zu und durch! Ich haue rein und kann einen 40er Schnitt halten. Es gibt keinerlei Steigungen, kilometerlang geht es hochstraßenartig durch Umbrien. Niemand hupt, naja, ein, zwei, aber die meinen das nicht so. Ich trete und kurbele und trete mich in Trance, Wut quillt in mir, ich kann nicht mehr, aber ich will, will, will jetzt zum Ziel! So kurbele ich mich in Rage und die Angst davor, dass Carabinieri mich entdecken und abkassieren könnten, treibt mich noch weiter an.

Einige letzte Kilometer vor Foligno mache ich eine Pause in einer Seitenstraße zu einem Bauernhof. Neben einer Kaktee, die bestimmt schon 300 Jahre alt ist, lasse ich mich ins Gras sinken, trinke gierig meinen kochend heißen Eistee aus und atme schwer. Wow, was für eine Etappe!, denke ich mir.

Mein Rad sieht aus wie Hulle, Dreck und Spritzwasser haben einen unansehnlichen Film am schneeweißen Cervélo-Rahmen gebildet. Nicht schön. Ebenso unschön, wie meine Waden, die aussehen, als hätten sie gerade ein Mountainbike-Schlammrennen gewonnen.

Na denn - aufsitzen - die lezten 5 Kilometer schaffe ich auch noch!

Durch dick und dünn

Glücklich, es endlich geschafft zu haben, fahre ich von der Autobahn ab, nicht ohne dass noch einer mich anhupt, dann geht es einen Kilometer durch immer dichter werdenden Stadtverkehr in die Innenstadt - schon halte ich meine Augen offen nach einem Hotel. Denn da Foligno ursprünglich nicht auf meiner Route lag, habe ich hier nichts reserviert.

Ich nähere mich einem großen Kreisverkehr - als es mir auf ein mal in meine Nase fährt: Ein Geruch, dass es mir das Gedärm zusammen zieht. Es stinkt nicht, es riecht hier: Hier verwest etwas.

"Alter!", rufe ich, es ist kaum auszuhalten, meine Fresse, was ist hier denn los?

Dann komme ich zum Kreisverkehr und muss blinzeln, was liegt denn da? Große Haufen ... rosa ... Zeug? Die Autos kurven herum, ich komme näher, da sehe ich es, erkenne es endlich: In der prallen Sonne, es sind wohl 40 Grad locker, verwest ein riesiger Haufen Innereien. Es stinkt so erbärmlich, dass mir Tränen in den Augen stehen und ich kaum atmen kann. Boah, nicht zu beschreiben!

Doch noch immer schieße ich mit 35 km/h auf diesen riesigen Haufen Gedärme zu, Autos manschen durch Dick und Dünn, es spritzt und splatattert, über die Straße fließt ein Brei aus Innereimansche und Blut. Es ist das Ekelhafteste, das ich jemals gesehen habe.

Aufpassen!, denke ich mir, als ich meine schmalen Rennradreifen in das Massaker steuere - zu viel Schräglage und ich rutsche aus. Bremsen unmöglich. Ich fahre durch die Masse, es macht Geräusche, als wenn ich selbst kotzen müsste, breiige Ekelmasse spitzt gegen meine Unterschenkel - im Augenwinkel sehe ich Menschen am Rand des Kreisverkehrs sehen. Na, wenn schon was los ist in Foligno, dann wollen sie das hier auch sehen.

Ich schwöre mir: Wenn ich jetzt in diesen Stinkebrei stürze, fahre ich nie wieder Fahrrad!

Endlich komme ich in die Altstadt, die Fußgängerzone iszt wie leer gefegt: Es stehen wohl alle am Kreisverkehr. Ein Schild weist den Weg zu einem Vier-Sterne-Hotel, ich folge ihm.

Meine Wahl erweist sich als Glücksgriff in jeder Hinsicht: Das Zimmer hier im Hotel Italia ist riesig, es ist sehr geschmackvoll eingerichtet und die Damen an der Rezeption so freundlich wie noch nie. Ich rolle ins wohl temperierte Zimmer im mittelalterlichen Ritterstil, stelle mein Cervvélo ab und lasse mir erst einmal ein Bad ein.

Ich genieße die Badewanne, die so groß ist, dass ich meine 1,86 m bequem in ihr unterbringen kann, fast eine Stunde lang. Ah ist das herrlich: In heißem Wasser wasche ich mir den Ekelschaum der Begrüßungs-Innereien ab.

Schäume mich erneut mit frischem Wasser ein und genieße es einfach, heute ins Herz Umbriens vorgedrungen zu sein und diesen Husarenritt, der mich über idyllische Landstraßen, malerische Berge und Schluchten und die verrückte Autobahn geführt hat.

Dann gehe ich ein wenig durch die Altstadt, setze mich auf den liebevoll restaurierten MArktplatz, dessen Staub Geschichte atmet, trinke ein, zwei Cappucchini, die hier nur einen Euro kosten, lasse mir zwei Focaccias schmecken und die Sonne auf die Nasenspitze scheinen - Dolce Vita wie ich es mag. Unten brennen die Waden und oben dufte ich nach dem leckeren Duschbad - welch´Unterschied zu dem Darmgeruch vom Kreisverkehr. Ekelhaft.

Zurück im Hotelzimmer wasche ich die Klamotten - extra zwei mal, denn wer weiß, wo die Soße alles hingespritzt ist - und hänge sie an die Fensterläden. Leider blicke ich auf ein Baugerüst. Ich verbringe noch ein, zwei Stunden im Bett, nicke kurz weg, und dann wird es Zeit für dsas Abendessen.

Und da genieße ich einen fantastischen umbrischen Hauswein, warmes, selbst gebackenes Brot, herrliche Antipasti, die mir heute, da ich dies hier schreibe, noch das Wasser im Munde zusammen laufen lassen. Der Hauptgang sind die besten Pasta, die ich jemals in meinem Leben hatte und dazu gibt es einen Salat, der vorhin noch von den dicken Mamas geschnibbelt wurde, die ich von meinem Zimmer aus hören konnte.

Ein Dregängemenü der Extraklasse - und allen, die nach Foligno kommen, sei das Hotel Italia und das tolle Restaurant hiermit wärmstens empfohlen.


Abends gibt es wieder WM-Fußball, aber ich dämmere schnell weg, plündere vorher die eiskalte Minibar und plane die kurz die morgige Etappe: Morgen, so lege ich fest, geht es nicht nach Rieti. Sondern nach Civita Castellana.

Und hier, so weiß ich, werde ich einen alten Bekannten wieder treffen: Kollege Goethe.

Etappe 3 - Senigallia-Foligno

Etappenlänge: 132,8 km
Fahrtzeit brutto: 5 h 30 min
Fahrtzeit netto: 5 h 06 min
Schnitt:
25,7 km/h


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2 Kommentare:

  1. white_speedJuli 25, 2010

    "also kommt man mit dem Rennrad doppelt so schnell den Berg hoch, wie mit einem Liegerad."

    Der Vergleich hinkt etwas: 18 kg Liegerad SPM + viel Gepäck vs. 8 kg RR + wenig Gepäck. Logisch, dass das RR dann am Berg schneller ist.
    Bei einem gleich schweren Carbon Liegerad sähe es da sicher anders aus.

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  2. hinkt nicht: vergleichen kann ich nur, was ich selbst erfahren habe. und das ist nun mal die SPM und das RR. alles andere, ist mir schnurz: ob es noch leichtere LRs gibt oder noch schwerere RRs - es geht hier um MEINE erfahrung mit LR und RR auf MEINEN touren.

    abgesehen davon bin ich der überzeugung, dass der wiegetritt so enorme vorteile bringt, dass auch einem gleich schweren LR das RR am berg schneller sein würde.

    L

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