Tappa 1: nach Ravenna

Ich bin - wie immer in meinen "Urlauben" - der Erste beim Frühstück. Morpheus hatte gestern Abend noch für mich eine Ausnahme arrangiert, denn ich darf schon um 7 Uhr ans Buffet, statt, wie die anderen Gäste des Hotels. erst 7:30 Uhr.

Morpheus? Ja, klar, DER Morpheus aus "Matrix". Und kein anderer. Der Nachtportier muss der Meisterhacker sein, daran besteht für mich kein Zweifel.

Etwas mürrische Bedienstete, die noch mitten im Aufbau der Frühstückswelt sind, beäugen mich und bringen mir widerwillig meinen Capucchino. Erst als Aldo - der heute mal nicht als Möchtegern-Schumi die Leute im Sauseschritt vom Flughafen abholt sondern mit einer Silikonspritze bewaffnet einige Würste in den Poolrand drückt - erst als Aldo mich überschwänglich winkend begrüßt bin auch ich bei den Bediensteten akzeptiert.

Ich labe mich an Joghurt, frischem Obst und Croissants mit Butter und Marmelade. Wurst, kurz, Herzhaftes gibt es heute nicht. Wohlwissend, was auf meinen Körper heute zukommen wird, spüle ich meine Taxofit Magnesium-Kapseln und noch eine für Gelenke mit frischem Apfelsaft hinab, bezahle dann mein Zimmer und stehe nur 15 Minuten später in voller Montur vor dem Hotel bereit: Erste Etappe mioGiro, es kann losgehen!

Bekanntes Terrain.

Zunächst geht es die mir von der gestrigen Trainingsausfahrt noch gut in Erinnerung gebliebenen 15 Kilometer zum Westende der Insel Cavallino-Treporti entlang.

Obwohl die Straße neben mir wie leer gefegt ist - 7:40 Uhr ist hier noch kein Autofahrer auf den Beinen - entscheide ich mich für den Radweg. Der aalglatte Belag ist dann doch um einiges attraktiver.

Ich lasse es ruhig angehen, weiß ich doch, dass ich heute zwar nur schätzungsweise 10 Höhenmeter auf der gesamten Etappe, doch aber 120 Kilometer zu absolvieren habe. Früher, auf meinem Liegerad war das keine Distanz, ich erinnere mich aber nur zu gut an das nur halbsolange Rennen, das ich vor zwei Wochen in Hamburg gefahren bin. Und das war Rückenhandgelenksposchmerz vom Feinsten!

In die grandiosen Farben der hell strahlenden aufgehenden Sonne hinein blinzle ich, ich muss grinsen, öffne den Reißverschluss meines Trikots und atme tief durch - ich fahre mit 32 km/h in meinen Urlaub hinein!

Wenig später schon, ich erschrecke fast, erreiche ich den kleinen Fähranleger von Punta Sabbioni, löse eine Fahrradkarte (1 Euro) nach und besteige mit der von gestern nicht entwerteten Personenkarte das Wassertaxi. Es ist die selbe Route wie gestern, nur dass ich eine Station vor Venedig raus muss.

Drüben angekommen - die schmale und etwa 15 Kilometer lange Insel heißt Lido di Venezia - finde ich mich auf einer immer noch leeren, wunderschön geschwungenen Straße entlang des ruhigen Lagunenufers wieder. Herrlich - wird sich mir Italien immer so wundervoll präsentieren?

Auch Goethe war hier, wie ich in der "Italienischen Reise" lesen kann:

" Wir stiegen aus und gingen quer über die Zunge. Ich hörte ein starkes Geräusch, es war das Meer, und ich sah es bald, es ging hoch gegen das Ufer, indem es sich zurückzog, es war um Mittag, Zeit der Ebbe. So habe ich denn auch das Meer mit Augen gesehen und bin auf der Tenne, die es weichend zurücklässt, ihm nachgegangen."

Na, zum Meer auf der Südseite bin ich nicht gekommen, aber das Meer werde ich noch genug sehen. So schwingen meine Beine in rhythmischem Tritt, die Dura Ace singt das stille Lied vom Vortrieb und ich genieße ab und zu den Schatten der würzigen Uferbäume, weiche ab und zu dem einen oder anderen Schlagloch aus und freue mich, dass ich alleiniger Herr der Straßen des Lido bin.

Eine Idylle.

So geht das einige Kilometer. Dann, die Straße ist hier als breite Magistrale mit jeweils zwei Fahrspuren pro Richtung ausgebaut, erreiche ich Alberoni, der "Hauptstadt" dieses Inselchen, oder Düne, wie Goethe den Lido nennt.

Auch die Straßen Alberonis sind leer. Es schlafen wohl noch alle, oder sitzen im Morgenrock Capucchino trinkend vor der neuesten Ausgabe der Gazetto dello Sport ...

Da werde ich plötzlich wie aus dem Nichts von einem Bus überholt. Ich erschrecke - und huste später, denn seine ungefilterte Dieselwolke verklebt mir rauchig stinkend mit öligem Nachgeschmack die Lunge.

Der Bus hält, ich überhole ihn.
Wenig später er mich.
Dann hält er wieder.
Ich ziehe vorbei.
So geht das, bis wir Alberoni verlassen haben.

Wettlauf mit einem Bus ... in einem Wettlauf.

Nach weiteren 15 Kilometern stehe ich am Fähranleger der zweiten Fähre. Von hier aus geht es vom Lido hinüber zur dritten und letzten Insel meines morgendlichen Hoppings - hinüber auf eine Insel, die noch nicht einmal einen Namen zu haben scheint. Ich nenne sie nach der Siedlung, durch die ich kommen werde: Pellestrina.

Kurz bevor die Fähre kommt, gesellt sich auch rußig schnaufend der Bus zu den Wartenden. Er wird mit mir gemeinsam auf das wackelige Boot rollen. Nur fünf Minuten später bin ich es aber, der noch vor allen anderen das schwimmende Taxi verlässt, die Gänge hochschaltet und Gas gibt.

Es herrscht Seitenwind auf der etwa 10 Kilometer langen und nur wenige hundert Meter breiten Insel. Geschützt aber von haushohem Schilf kann ich einen runden Tritt finden, schwitze mich zwar zu Tode kann mich aber mit 35 km/h sehr gut behaupten.

Dann brummt der Bus an mir vorbei.
Ich habe ihn wieder im nächsten Ort.
Dann überholt auch er mich wieder, knapp, knappi am knappesten, wie wir Italiener das mögen.

Doch der Bus muss langsam fahren, denn wir beide - mit unserem eigenen Wettrennen beschäftigt - geraten in ein anderes Wettrennen.

Schüler, Hausfrauen und Polizisten stehen am Straßenrand und winken, auf der linken Seite kommen mir Jogger entgegen, auf der rechten Seite überhole ich selbige auf ihrer Rückrunde. Und immer in Sichtweite vor mir mein Gegner, der Stinkebus. Dank der sportlichen Bewohner der namenlosen Insel habe ich wieder eine Chance gegen ihn.

Ich beschleunige, das rote Ungetüm starr im Blick, trete hart im Wind, meine Lungen brennen und ich stemme mich, kämpfe gegen dass Unvermeidliche an, erkläre der Aerodynamik den Krieg: Den Stinkebus, den kriege ich noch! Den kriege ich noch! Den kriege ...

... und überhole ich. Er steht in Pellestrina auf dem kleinen Marktplatz, parkt, Leute steigen ein und aus, der Busfahrer lehnt sich zurück - ich ziehe vorbei.
Geschafft, gewonnen.
Geschafft.

Meine Beine brennen, mir läuft der Schweiß unter dem Helm. In Strömen. Mein Rücken ist wassergetränkt, weicht es schon in meinen Rucksack durch?
Geschafft bin ich, fertig, dann kommt der Fähranleger, die Fähre braucht noch eine Stunde. Aha, denke ich mir, deshalb parkt der Bus auch auf dem Marktplatz.

Ich parke meine brennende Lunge am Anleger, stelle mein Cervélo ab und hocke mich hin.
Eine Stunde warten. Sinnlos, Zeit verstreicht.
Aber genug, um das Brennen in meinen Lungenbläschen zu löschen.

Schlappend branded brackiges Wasser an die Mole. Geckos zucken über heißen Bordstein, die Luft steht, nur ab und zu kommt eine frische Brise voller Lagunensalz zu mir herüber, ich ziehe volle Züge Schorle aus den heißen weichen Plastikflaschen und dämmere der Fähre entgegen.

Der Aldo der Meere.

Es soll nach Chioggia gehen - der ersten Stadt auf italienischem Festland. Auch Goethe, mein pferdegetriebener Vorreiter, kam diesen Wegg, über Choggia weiß sein Tagebuch folgendes zu berichten:

"Ich fuhr von Pellestrina gegen Chioggia über, wo die großen Baue sind, Murazzi genannt, welche die Republik gegen das Meer aufführen lässt. Sie sind von gehauenen Steinen und sollen eigentlich die lange Erdzunge, Lido genannt, welche die Lagunen von dem Meere trennt, vor diesen wilden Elementen schützen."

Auch ich sehe die Murazzi. Riesige Steinwälle, eine Mauer, jetzt, da Flut ist, scheint sie mir 6 Meter hoch zu sein, doch genaueres kann ich erst sehen, als ich die Fähre besteige.

Sie ist von noch kleinerer Bauart, wirkt fast zart, zerbrechlich, als sie anlegt, und sie alle, die rostigen Cinquecentos, die nagelneuen BMWs und - siehe da - der Stinkebus - die bestürmen, auf dass sie sie mitnähme.

Als ich an Bord rolle kommt ein Herr in fantasievoller Uniform auf mich zu und fragt nach meinen Biglietto sehen. Oha, denke ich mir - die waren nur für eine Fahrt gültig und dies ist schon die dritte! Ich zucke sie gekonnt umständlich, englisch schnatternd, aus meinem Rucksack. Er will sich diese Mühe sparen, sieht meine entwerteten Tickets und lässt mich gewähren.

Wenig später legen wir ab. Und gleich fühle ich mich an meine Taxifahrt mit Aldo erinnert.

Ein riesiger Tanker - unfähig in den engen Gewässern zu manövrieren, geschweige denn zu bremsen - schiebt sich genau in unseren Kurs. Oder besser, unser Kapitän, ich nenne ihn mal ... Aldo ... manövriert sich und uns genau auf Kollisionskurs.

Gebannt stehe ich an tiefen Deck, schwappend kommt Salzwasser über, die frische Brise kühlt, aber Angstschweiß ist ja bekanntlich sowieso kalt.

Ich weiß nicht wie er es gemacht hat, aber wir verfehlen das Heck mit dem wütend durch eine riesige Schiffsschraube aufgewühlten Wasser nur um wenige Meter, die anderen Gäste scheinen die Dramatik gewohnt zu sein. Ich jedenfalls atme auf, als wir im Hafen von Chioggia einlaufen und denke nur kurz daran zurück, dass der Fährhafen von Pellestrino genau neben dem Inselfriedhof lag - jedenfalls war es kein böses Omen.

Endlich Italien, denke ich, endlich Festland. Nach dem Inselhopping geht es nun also richtig los. Bis hier her, keine 60 Kilometer gefahren, aber fast 4 Stunden gebraucht. Schön war es, das Hoppen. Aber nun, nun erwacht der Racer in mir, will reintreten, will eine schöne, gerade, glatte Straße und ein paar Stunden Gas geben.

"Andiamo!", denke ich - und bleibe auf holperigem Pflaster einer pituresken Fußgängerzone im Hafenviertel dieser wunderschönen Stadt stecken. Stop and go ist angesagt.

Festland und ein fließender Po.

Als ich mich endlich aus der Fußgängerzone hinaus gearbeitet habe, suche und finde ich das Schild, das mich auf die Super Strada nach Ravenna bringt - immer gen Süden, immer geradeaus.

Es geht ein schöner Wind von Seeseite her, der mir noch von schräg hinten in die Waden pfeift, und so bin ich guter Dinge, trete rein und kann schon bald einen 30er Schnitt von meinem Garmin Forerunner ablesen.

Die Straße fährt sich gut, der Belag ist eben und glatt, nur ab und zu, meist, wenn es durch die kleinen Orte geht, wird es ruppig. Dann schmälert auch der ansonsten angenehm breite Seitenstreifen etwas ab, aber kaum bin ich aus den Ortschaften raus, habe ich fast einen Meter feinsten Asphalt für mich - die mich massenweise überholenden Autos nerven deshalb kaum.

Heiß ist es. Und wo mir sonst der Rückenwind willkommen ist, sorgt die Windstille vor meiner Brust zu einem Hitzestau sondergleichen. Zum Glück lässt sich das Cervélo-Trikot von Castelli wie eine Jacke öffnen und schon bald fahre ich mit freiem Oberkörper.

Was allerdings nur sexier aussieht - mehr Kühlung bringt das kaum.

Bald wird die Super Strada breiter, zwei Fahrspuren pro Richtung, irgendwann kommt der Mittelstreifen hinzu. Dann werde ich nicht mehr von 120 km/h schnellen Fiats überholt, sondern von 180 km/h schnellen.
Das hier sieht nicht nur nach Autobahn aus - es benehmen sich auch alle, als sei es eine.

Mir schmerzt der Po, denke ich, als ich auf eine lange Brücke komme.

An deren Ende ein Schild: "Fiume Po".
Aha, das hier ist also der Po. Der Fluss, von dessen Ebene ich schon so viel gehört habe. Nun fahre ich darüber. Unter mir, wenn ich schaue, sehe ich aber kein Wasser. Die Brücke ist mindestens 1.500 Meter lang. Wahrscheinlich, wie so viele große Ströme, schwillt auch der Po nur ein mal im Jahr richtig an. Dann nämlich, wenn in den Bergen zum Frühjahr hin das Wasser schmilzt.

Jetzt aber sehe ich nur ödes Fadland neben - und eine elend lange Brücke vor mir.

Irgendwann, ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, drehe ich dann meinen Kopf und sehe endlich die Fluten des Gewässers. Po also. Da ist er. Wenige Sekunden später wars das auch schon.
Vergangen.
Po vorbei.

Was nicht vorbei ist, sind die Schmerzen in selbigem.
Und die, so denke ich, werden so schnell nicht vorbei gehen.

Aber alles ist vergessen, alles ist wie hinweg gezaubert, als ich vor mir auf der Geraden die unverkennbare Silhouette eines Rennrades erkenne. Noch klein, da, da hinten am Horizont, aber ich kann den runden Tritt erkennen, die charakteristische gebückte Haltung - ja, ein Bicicletta da Corsa.

Und wie Männer eben so sind, erwacht sofort der Jagdtrieb in mir. Das gab es auch schon so auf dem Liegerad und auf dem federleichten Carbonrenner ist dieser ungezügelt. Ich überlege kurz: Bisher 50 Kilometer in sängender Hitze gefahren, ich bin außer Puste, meine Lungen brennen, meine Schultern tun weh und ich habe mindestens noch 70 Kilometer vor mir ... ach, Scheiß drauf, sagt mein linker Fuß und tritt in die Kubel, genau!, stimmt mein rechter ein und ich beschleunige.

Noch motivierter bin ich, als ich erkenne, dass der Herr Italorennradler ein rosa Trikot trägt. Kann das Zufall sein? Oder hat der Rennradgott mir hier ein Zeichen vor die Laufräder gesetzt?
Das Maglia Rosa vor mir, auf meiner ersten Etappe, mein erster Rennradler. Na, Ehrensache - DEN HOLE ICH EIN!

Ich habe meine liebe Mühe, lege mich in den Wind und gehe in die Untenlenkerposition. Bequem ist das nicht, aber man bietet dem Wind dadurch halt weniger Angriffsfläche - außerdem kann ich tatsächlich runder, ruhiger treten. Fühle regelrecht, wie mein Arsch sich im Links und Rechts des Trettaktes auf dem schmalen Prologo-Sattel bewegt.

Und dann, dann habe ich ihn ein, verweile kurz in seinem Winschatten - 31 km/h fährt der Herr. Waden unrasiert - na, das kann kein Profi sein - dafür auf einem dicken Blatt und mit behäbigem Tritt.

Durchatmen.
Einen Gang runterschalten.
Ich blicke mich kurz um, ziehe raus und gebe Stoff.
Wenig später ziehe ich vorbei, sage "Ciao." im Überholen und setze mich ab.

Eine Brücke kämpfe ich mich hoch, halte das Tempo scharf, dann nehme ich raus - das Rosa Trikot liegt weit abgeschlagen hinter mir.
Schuss. Treffer. Versenkt.

Gegenwind und ein schmerzender Po.


Aber die Freude über die Führung währt nicht lange. Schnell bin ich wieder im runden Tritt, kämpfe mich durch die fruchtbare Einöde der Po-Ebene und bin den Angriffen eines aggressiven Seitenwindes ausgesetzt.

Ich trinke viel. 1,4 Liter kann ich mitnehmen und so mache ich mich daran, die zweite Flasche zu leeren. Die Straße windet sich mal links mal rechts. Es gibt hier kaum etwas zu sehen. Da, links von mir, keine 2 oder 3 Kilometer weiter, da müssen die kühlen Fluten der Adria an sumpfiges Ufer branden. Aber hier kommt davon nichts an. Nur ein trockener Wind, der heißer scheint, als der Fön meiner Süßen.

Ich analysiere meine Schmerzen: Rennrad fahre ich erst seit 600 Kilometern. Das Cervélo R3 ist auf meinen Wunsch hin tourenmäßig auf mich eingestellt und angepasst worden, der Prologo "Nago"-Sattel trotz der eher minimal anmutenden Federung des Bezuges gilt als einer der langstreckentauglicheren.

Auf meinem Rücken fahre ich den Deuter TransAlpine 26 SL - DER Rucksack für Radtouren, habe ich mir sagen lassen. Viel Stauraum, eine Menge Taschen, ein cleveres Belüftungssystem und viele Schnallen, um den Sack fest und verrutschsicher auf dem Rücken zu fixieren.

Und doch - die 4 Kilo Gepäck drücken auf meine schmalen Schultern. Muskelaufbau am Rücken - notiere ich mir in Gedanken für die Zeit nach mioGiro. Nicht, dass die Gurte einschneiden oder so, das nicht, aber ich fühle, wie die Last langsam die Leistungsfähigkeit mindert. Und meine Leidensfähigkeit auf die Probe stellt.

Aber die Schultern und der Nackenbereich sind nicht die einzige Front, an der ich zu kämpfen habe. Da wären noch die Handknöchel. Zwar ist die Straße hier sehr gut, und doch geht jeder kleine Schlag, jedes Steinchen sofort und fast ungefiltert in meine Handknöchel. Da kann auch das großzügig gewickelte Gel-Lenkerband nichts ändern. Wie auch die "Polsterung" meines Sattels dient dieses wohl eher ästhetischen Zwecken. Missen will ich es aber auch nicht.

Auch die Handknöchel sind nicht die schlimmsten Schmerzen. Richtig spaßig wird es langsam, jetzt, da ich mich der 70 Kilometer-Marke nähere, am Hintern. Passend zur Ebene, die ich gerade durchquere, spüre ich, wie die Sitzflächen meiner Gesäßknochen immer lautere Hilferufe an mein Stammhirn schicken: "Wann ist dieser Ritt den endlich vorbei???!!!"

Ich stelle mir die Karte vor - und denke: "Na, Jungs, noch LANGE nicht!"


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Nee, da ist noch ne Runde zu fahren.
"Na Danke, Du Arsch!", kommt es da von unten.

Und dann meint es der Straßengott gut mit mir. Denn ich gerate zunächst auf einen Straßenabschnitt, der so nagelneu aussieht, noch so neu riecht, so glatt ist, dass ich denke, ich schwebe über den Asphalt. Eine Ortsumgehung. Eine lang gezogene Kurve. Gesäumt von Pappeln, wahnsinnig schön zu fahren, eine lange, lange laaaaange Kurve. Und als ich nach links blicke, in Richtung Mittelpunkt dieses riesigen Asphalthalbkreises, sehe ich Idylle.

Ich bremse. Stehe. Überquere die autobahnartige Monsterumgehung, hebe mein Bike über die Leitplanken, schiebe durch zwei Reihen Rhododendrenbüsche und stehe mitten in einem Klosterkomplex, der so schön ist, dass mir der Atem stockt.

Ich muss das Rennrad keine zwanzig Meter über den akurrat geschorenen Rasen, der saftig grün und feucht in regelrecht verschwenderischem Kontrast zur flirrenden, trockenen Hitze und dem Blasen werfenden Asphalt steht, laufen, und schon höre ich keinen Laut mehr von der Straße, von den donnernden Trucks, den sägenden Piaggios und den rasenden Barchettas.

Pause in der Umgehungsschleife.


Ich bin in Pomposa, lerne ich. Es handelt sich um ein Kloster, in dem einmal die Brüder des Benediktiner-Ordens ihrem Glauben und - vor allem - harter Arbeit nachgegangen waren. Ich lese, dass bereits im 6ten Jahrhundert an diesem Ort eine Kirche stand und dass der Komplex in seiner heutigen Form um 1.000 seine Blütezeit und größte Macht an der Straße zwischen Rom und Ravenna erreichte.

Nur eine Naturkatastrophe - als bei Hochwasser in Ferrara die Dämme brachen - leitete den Niedergang des Klosters ein. Heute, so kann ich mich davon überzeugen, können Menschen sich diese wunderschönen Bauten ansehen, den stattlichen Kirchturm besteigen und es sich im Ristorante gemütlich machen - was ich auch tue.

Ich bestelle mir eine große Flasche Wasser und einen Insalata Mista. Ich will nichts Schweres, eher etwas Gesundes, etwas, das mich fit macht. Und was kann da besser sein, als knackfrischer Salat voller Vitamine, Mineralien und Salze - all das wertvolle Zeugs, das ich mir literweise in Norditaliens Sonne gerade auf den Asphalt geschwitzt habe?

Der Kellner trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "POLIZEI" und die Mama, die mir die mir gerade die Blätter, Frisee-Köpfe, Tomaten und köstlichen Paprika zerschnibbelt hatte, kommt raus, beide setzen sich an den Nachbartisch und schauen mir zu, wie ich den Salat mit einem der leckersten Olivenöle beträufele, die ich jemals hatte und mich langsam aklimatisiere.

Nebenan versucht ein chinesisches Pärchen die Karte zu lesen.

Proschiutto e Melone runden mein Mal ab. Es schmeckt köstlich. Es ist einer dieser unvergesslichen Momente: Ich sitze im Schatten zweihundertjähriger Bäume, weiter weg läutet eine Glocke die 12 und ich blicke auf das Rennrad, das keine 2 Meter von mir entfernt steht: Aller Schmerz, alle Qual ist vergessen.

Ich bin glücklich.
Schnorbse meinen Salat und genieße die Ruhe.

Wahrlich, ein heiliger Ort, denke ich mir. Hier hätte ich auch ein Kloster gegründet.

Und dann, nach einer Stunde Pause, gehe ich wieder über die Wiese. Schaue mich noch einmal um, kämpfe mich durch den Rhododendron, hebe das Bike über die Leitplanke, stehe auf kochendem Asphalt, atme tief durch, klicke mich ein und bin wieder in sängender Sonne, ertrage die Strahlen, ärgere mich über den Gegenwind und kurbele, was ich kann. Ravenna muss erreicht werden.

So fliege ich durch kleinere Dörfer, ärgere mich, dass ich Depp vergessen habe, meine Trinkflaschen mit frischem, kalten Nass aufzufüllen und halte nun mit quälend trockener Kehle Ausschau nach einer "Bar".

In Italien ist das nämlich so - habe ich gelernt - es gibt zwar in jedem Dorf, und sei es noch so klein, eine Tankstelle, aber das ist nicht so wie bei uns in Deutschland, wo Tankstellen mit dem Benzin eigentlich nur den Vorwand liefern, um das eigentliche Geschäft aufzuziehen: Nämlich ein 24-Stunden-Supermarkt zu sein, in dem man überhöhte Preise verlangen kann.

In dem es dann aber auch alles gibt, was man so braucht.

In Italien sind Tankstellen immer noch Tankstellen. Und sonst nichts.
Wenn eine Tanke denn dann mal etwas Trinkbares anzubieten hat, dann merkt man das an dem Zusatzschild "Bar", das unter dem Esso, Agip oder Shell-Logo klebt.

Aber weit gefehlt, wenn man jetzt denkt, dass eine Bar dann ein Shop sei, ähnlich dem gewohnten deutschen Einkaufsparadies. Meist ist die Bar nichts weiter als ein Tresen, wo natürlich - Espressi und Tramezzini verkauft werden. Hat man Glück, steht dann noch ein Eisschrank mit Softdrinks herum.

Und genau das brauche ich jetzt.
Genau das.
Aber es kommen keine dieser Tankstellen-Bars.

Ich verdurste.
Meine Geschwindigkeit geht herunter. Beine sind schwer. Magen knurrt schon wieder (Salat war wohl doch nicht ganz so ausreichend) und ich überlege mir, einfach irgendwo zu klingeln und nach "Agua" zu fragen ... bis ... tja bis der Rennradgott mich wieder rettet:

Lidl.

Die deutsche Supermarktkette erscheint mir zunächst in Form eines riesigen Werbeschildes. Blau-Gelb-Rot glimmt es kochend in der Sonne, übertrieben, an einem 30 Meter hohen Stahständer, dreht sich das deutsche Logo. Und ich traue zunächst meinen Augen nicht, aber es ist wahr - eine eigene Abfahrt haben sie hier an die Super Strada gebaut, sieht aus, wie das Maschener Kreuz daheim.

Mir solls recht sein, ich drehe ab, parke mein Rad an der Fensterscheibe, klackere auf dem letzten Loch pfeifend und schwitzend direkt in die Wasserabteilung (witzig, dass weltweit alle Lidl- und Aldi-Filialen nach dem selben Prinzip eingeräumt sind) und kaufe mir zwei Flaschen Wasser und etwa ein Kilo Bananen.

Die süße Bedienung kassiert mich italienisch ab.
Ich trinke wie ein Wikinger die erste Flasche direkt mal halbleer, den verbleibenden Liter kippe ich mir riekt durch den Helm auf meinen Kopf. Ein kleiner Junge schaut mir mit großen Augen zu. Als ich die dritte Banane in mich hinein stopfe, kommt sein Papa, hebt ihn auf, grinst mir zu und steigt in sein klimatisiertes Auto.

Mir bleibt nur der harte Sattel meines unklimatisierten R3.Die Landschaft ändert sich kaum. Es bleibt flach wie in Holland, der Wind bleibt hart wie in Holland und die Sonne macht keine Anstalten, an Intensität zu verlieren oder durch die eine oder andere Wolke verdeckt zu werden.

Wenn ich auf den - wahrscheinlich noch aus Römer- oder Mittelalterzeit stammenden - alten Straßen noch ab und zu durch Schatten spendende Alleebäume wenigstens mal kurzzeitig Abkühlung fand, befinde ich mich nun auf der zwar super ausgebauten, aber völlig schattenfreien High-Tech-Super-Strada - und kann nichts weiter tun, als durch flirrende Hitze mehr oder weniger angweilig geradeaus zu fahren.

So muss das sein: Leiden, leiden nochmals leiden.

Ich kenne das noch aus Kanada - die Radtrance. Man fährt, und fährt, und fährt. Die Strecke ist wenig anspruchsvoll - man muss kaum Denkleistung oder Koordination vom Gehirn abrufen. Einfach nur treten. Rund. Stupide fast. Treten. Kilometer um Kilometer. Stunde um Stunde. Gerade aus.

Und dann geht der Geist auf Wanderschaft.
Fliegt davon.
Verlässt den Körper.

Und wie ich hier so durch die mindestens 40 Grad heiße Sonnenluft Norditaliens schneide, meistens meinen Kopf gesenkt halte, meine glatt rasierten Waden auf und ab stampfen, das fauchen meiner Mavic-Speichen, die carbonig durch den Wind schneiden, eine Symphonie aus Speed und Natur, da drifte ich weg. Dämmerzustand. Gehirn auf Sparflamme und Gedankenblitze, die zucken, Themensprünge wie Warpflug, nur ab und zu, wenn eine Schweißperle mir nervig an Brust oder Stirn hinab läuft, kribbelt es, als krabbelten Ameisen mir den Körper entlang, als sei ich einer Invasion der Insekten ausgesetzt.

So trete ich mir die Kilometer weg.
So dämmere ich einen Limbo zwischen Rennrad und gedanklichem Rückzug in Musikfragmete aus Depeche Mode und "Volare ..."

Drehe ich jetzt völlig durch?

Eine Stunde später. Ich kann nicht mehr.
Ich schwimme in mir selbst. Es scheint, als gäbe es zwischen Haut und Fleisch noch eine Schicht, die befüllt ist mit Wasser. Meine Klamotten stinken, meine Füße schwimmen in den Sidis. Ich könnte eine Wechsel-Lunge gebrauchen, denke ich mit meinem sonnengeplagten Weichhirn, als ich meine Wechselflasche kochend heißes Wasser trinke.

So stehe ich auf dem Sand eines Parkplatzes. Nebenan rauschen die klimatisierten Autos vorbei wie eh und je, und ich stehe da, öffne mein Trikot und halte meinen nassen, nackten Bauch in den Wind.

Kühlung bringt das keine.

Nur fünf Kilometer weiter hat ein Ristorante geöffnet. Ich rette mich auf die Plastikstühle, deren Schatten spendende Lipton-Eistee-Schirme Kühlung versprechen.

Das Ristorante hat dann doch geschlossen, aber sie erbarmen sich meiner und verkaufen mir Wasser. Eiskalt ist es. Es prickelt, fast zischt mein Inneres, fast dampfen meine Innereien, als das kalte Nasse die Speiseröhre hinab gestürzt kommt.

Wow, was für ein Ritt, denke ich, atemlos, als mein Garmin Forerunner mir sagt, dass wir schon 115 Kilometer weit gekommen sind.

115 Kilometer - 40 Grad Hitze - und ich mittendrin.
115 Kilometer - mit dem Liegerad ein Klacks. Aufwärmphase beendet.
Mit Rennrad ... Helm ab zum Gebet, denke ich mir, als ich an die Etappen denke, die da noch kommen werden: Die Sonne wird bleiben. Aber die Ebene wird gehen. Und dann kommen Berge.

Aber das ist alles noch so weit weg. Jetzt will ich erst einmal nach Ravenna.

Ravenna!


Ich will gerade aufbrechen, da verlässt ein Pärchen, beide so um die 50, das Ristorante. Er sieht mich und mein Bike, ein Grinsen erhellt sein Gesicht.
Ich winke und rufe "Ciao!"
Ein freundliches "Salve!" kommt zurück.

Er startet den Motor seines VW Kombi, steigt aber wieder aus und kommt zu meinem Tisch. Seine Frau hinterher. Nachdem wir das übliche "Ich spreche kein Italienisch" hinter uns haben, bekommt er in umständlichem Englisch-Französisch aus mir heraus, dass ich bis Sizilien fahren will.

"Mama mia!", macht er da und immer wieder "Molto bene!"
Er erzählt viel, mach Gesten von Bergen, die seiner Meinung nach mir mit senkrechten Steigungen Angst einjagen werden, erzählt und erzählt, seine Frau übersetzt ab und zu in Englischbrocken und ich nicke nur.

Wie weit es denn bis Ravenna sei, frage ich endlich.
"Cinque." sagt er und hält mir fünf Finger vor das Gesicht.
Ah, super, atme ich erleichtert aus.
Mehr ist heute wirklich nicht drin.

Hupend fährt er staubig vom Hof, ich hinterher. Und wirklich - nach einem Kreisverkehr und einem eher unschönen, weil verlassen und heruntergekommen wirkenden, Industriegebiet, bin ich da - Ravenna.

Ich umrunde den Bahnhof, schaue kurz auf meinen Google Maps-Ausdruck und habe bald die Via Roma gefunden, wo auch mein Hotel ist.

Enge Gassen, alles sauber, alles bunt und pituresk. Dazu ruhig, ein laues, angenehm kühles Lüftchen rauscht mit dem Surren meines Freilaufs durch die Via Roma. Ich gleite langsam, langsam - gewinnen muss ich heute nichts mehr!

Irgendwann finde ich mein Hotel.
Checke ein.
Duschen.
Arsch eincremen - ah! - eine Wohltat!

Ich stehe im Bad, beschaue mir die roten Backen und denke Au Backe!
Und haue mir mit der flachen Hand auf die Stirn als ich merke, dass ich meine Gesichtscreme vergessen habe - dabei kaufte ich mir in Hamburg extra noch eine kleine Nivea-Dose.

Nun also das Gesicht auch mit Arschcreme eingeschmiert. Was meinem bestem Stück hilft, kann meinem anderen Gesicht ja nicht schaden, oder?

Rei aus der Tube reinigt meine verschwitzten Klamotten, die ich gekonnt an den Lamellen meiner Rolläden verteile. Sie hängen im Wind und werden innerhalb von Stunden trocken sein. Morgen also wieder im Cervélo-Autfit, wie es sich gehört.

Dann gehe ich raus, die Pflicht ist erledigt.
Nun beherrscht nur noch ein einziger Gedanke meinen sonnengeplagten Schädel: Essen!

So irre ich durch Gassen, die so sauber sind, dass man von ihnen selbiges verspeisen könnte: Ravenna ist eine Perle!

Am Piazza Popolo, dem Zentrum der Stadt, die früher einmal Hauptresidenz der weströmischen Kaiser war, einst direkt am Meer lag aber wegen der Versandung - so sagt es Wikipedia - nun 9 Kilometer von ihm entfernt sei, lasse ich mich nieder und bestelle Pasta.

Leckerschmecker, denke ich, als ich inmitten eines urplötzlich über die Emilia Romagna hereinbrechenden Gewitters in tosendem Regen sitze, von großen Sonnenschirmen geschützt, genieße ich eine perfekte Farfalle mit Tomatensoße, lasse mir den Insalata schmecken und erfrische mich an kalter Cola. Perfekt, denke ich - und Schwein gehabt - denn bei diesem Regen Rad zu fahren, hätte mir echt noch gefehlt!

Die Portion ist aber zu klein. Und so bestelle ich zur Verwunderung meiner kanadischen Bedienung noch eine Portion, die auch stehenden Fußes angeliefert wird.
Ich schlage mir den Bauch so richtig voll. Fresse mich dick und rund und bestelle noch eine fantastische Panna cotta. So muss das sein, schlürfe ich genüsslich meinen Espresso, strecke meine brennenden Waden aus, genieße die frische, merklich kalte Regenluft und schaue den Tauben zu, wie auch sie sich freudig in den Pfützen baden und erfrischen.

Auf meinem Rückweg ins Hotel beschaue ich mir das Erbe der Römer - eine Terme, Stadttore und Tempel. Sehe ehrwürdige Kirchen neben barocken Schmuckstücken sehen und wandle auf Pflastersteinen, die bestimmt zehnmal so alt sind, wie ich es bin.

Im Hotel ziehe ich mich nackt aus. Es ist heiß, stickig. Leider hat der Regenguss das Zimmer nicht vermocht durchzulüften. Meine Klamotten sind aber trocken - und so plündere ich die Minibar, mache es mir bequem und schaue aufgeregt schnatternden Kommentatoren bei einem WM-Spiel zu.

So muss das sein, denke ich.
So hab ich es mir verdient.

Erste Etappe gewonnen. Venedig nach Ravenna. Null Höhenmeter. Keinen einzigen Berg geritten. Aber doch - Gegenwind, Sonne und Hitze haben mich ganz schön zugerichtet.
Aber alles ist vergessen, als ich langsam wegdöse, mich spärlich mit einem Laken zudecke, draußen die Sonne versinkt, ein paar Jungs mit ihren Mopeds auf Ravennas Straßen angeben und ich einschlafe.

Morgen noch so eine Etappe, sind meine letzten Gedanken. Ich blinzele kurz - sehe mein Cervélo an die Wand gelehnt stehen. Geiles Rad, denke ich mir.
Und schlafe ein.

Etappe 1 - Venedig-Ravenna

Etappenlänge: 124,7 km
Fahrtzeit brutto: 8 h 30 min
Fahrtzeit netto: 4 h 15 min
Schnitt:
29,3 km/h


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3 Kommentare:

  1. Na alle Achtung, so von Null auf 1500 mit dem Rennrad und das bei den Bedingungen ... mir wär das da unten zu heiß, obwohl hier gerade 35 Grad sind :-)

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  2. Sie sind wirklich erstaunlich, mit einer solchen Reiseerlebnis.

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  3. Solch ein schöner Ort! So viele bunte Fotos. Sie verbrachte eine tolle Zeit. So froh, dass für Sie!

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