Tappa 4: nach Civita Castellana

Es regnet nachts, dass ich glaube, die Welt gehe unter. Es pladdert nur so herab, dass ich glaube, in der schmalen Gasse, die da unten zwischen meinem Hotel und dem Haus gegenüber ist, entstünde ein kleiner Fluss.

Viertel nach Sechs brummt mein Handy: SMS aus China, mein Schatz schreibt mir. Ich grinse in den heraufdämmernden Tag und beschließe aufzustehen. Ich beginne meinen Tag mit Goethe, dessen berühmte Reiserute ich heute wieder kreuzen und bis Neapel folgen werde:

"Denn aus Ungeduld, weiterzukommen, schlafe ich angekleidet und weiß nichts hübscheres, als vor Tag aufgeweckt zu werden, mich schnell in den Wagen zu setzen und zwischen Schlaf und Wachen dem Tag entgegen zu fahren und dabei die ersten besten Fantasiebilder nach Belieben walten zu lassen."

Nun ja, ich schlafe nicht angekleidet, sondern nackt (anders kann man die etwa 30 Grad "kühlen" Nächte Umbriens auch nicht ertragen), aber wohl wache auch ich vor Tagesanbruch auf, um endlich los zu kommen. Heute aber weckt mich der Regen: Es donnert und blitzt, es grummelt und rumort. Gewitter. Am Morgen.


Wird das Wetter heute halten? Na herrlich!

Es wird - zumindest anfangs. Nach einem wiederum leider nur süßen Frühstück fahre ich zurück auf die große Autostrada, die mich gen Rom tragen wird, das ich heute freilich noch nicht erreichen werde.

Im Hotel fragte ich gerade noch den Concierge, wie das Wetter heute wohl werden würde: Er schaute mich nur fragend an. Und wieder: Wird es regnen oder nicht?

"Can be.", sagte er. "Or not."
Aha.

Ich frage weiter. Diesmal zwei Carabinieri, wie ich am Besten nach Roma komme: Auch sie schicken mich wieder auf die Autobahn. Okay, denke ich mir, wenns sein muss.

"Halte Dich rechts - und fahr vorsichtig.", raten sie mir. Mach ich, versprochen!

Das Rennrad geht ab wie Schmidts Katze, ich kann Gas geben, komme mit 35 km/h leicht zu erreichendem Schnitt superflott voran und trete mich schnell in einen runden Tritt. Radtrance am Morgen, so muss das sein!

Die Autobahn ist von etwa 1,20 Meter hohen Betonmauern eingezäunt. Jede Fahrtrichtung für sich, jeweils zwei Fahrspuren pro Richtung und relativ ruhiger Verkehr. Ab und zu überholt mich polternd ein LKW, ansonsten kann ich frei und unbescholten treten. Spoleto ist mein erstes Ziel - und obwohl der Wind langsam dreht - zunächst von der Seite, später von vorne kommend - habe ich die beste Laune.

Was kann es schöneres geben, als frei und ungebunden durch die Lande zu treten? Nur den Drahtesel unter dem Hintern, ein kleines Säckchen auf dem Rücken, frei, frei wie ein Wandervogel, frei, frei ... ich atme tief ein, atme den Sauerstoff, die sonnengeschwängerte, doch feuchte Luft Umbriens und bin ... glücklich.

Spektakulär wellt sich die Lanmdschaft neben mir auf und ab, Dörfer, mal elegant, mal gar abenteuerlich in die Felsen gebaut, nur erreichbar über schmale, steile Straßen, Burgen, Schlösser, Klöster, Weingüter - ich bedauere, dass mich der betonerne Lindwurm, diese moderne Superstrada einzig davon abhält, hier mal abseits der HighTech-Wege zu schauen, zu sehen, wirklich nah zu sein, was ich hier nur atemlos von Weitem bestaunen kann: Idylle, herrliche Weite, perfekte Welt.

Vor mir tauchen erste Berge auf, das muss schon bald Spoleto sein, denke ich, neben mir hupt das erste Auto. Leck mich, denke ich, leck mich: Deine Carabinieri haben es mir erlaubt!

Kurz vor der Stadt verfahre ich mich, weil ich glaube, eine Abfahrt entdeckt zu haben, die mich auf eine Parallelstraße bringt, von der man mir erzählt hat: Leere Landstraße, nicht diese Autobahn-Rennstrecke, das wäre es jetzt. Ist es natürlich nicht: Ich irre etwa 10 Kilometer herum, ehe ich wieder zurück auf die Autobahn fahre.

Auch entscheide ich mich, heute nicht nach Rieti zu fahren, sondern geradeaus weiter nach Civita Castellana.

Und während ich noch nachdenke, kollidiere ich fast mit einem Berg, der Spoleto ist: Oben thront eine Burg, darunter eine fast senkrechte Felsmauer, auf die ich mit 40 km/h zuschieße und alsbald in einem Tunnel verschwinde.

Innen schockt mich wieder meine Sonnenbrille, die ich aufbehalte und mich wundere, warum mein Puls auf einmal die 200er Grenze erreicht und ich dieses sonderbare Ziehen in der Kehle spüre: Lebensgefahr! Und bevor mich der nächste Truck, der nur 30 cm neben mir mit 100 km/h an mir vorbei saust, wieder zu Tode erschrecken kann, schieße ich auch schon aus dem Tunnel heraus.

40 Kilometer geschafft, es ist kurz vor 9 Uhr - erste Pause auf der Autobahnraststätte in Spoleto.

Ich sitze in der Sonne, genieße eiskalten Eistee - die Flüssigkeit in meinen Flaschen hat dank Sonneneinstrahlung bereits kurz nach der Abfahrt die 40-Grad-Grenze überschritten - esse zwei Panini und tippe ein paar SMS an die Lieben daheim.

Ich verabsschiede mich bald schon wieder von Spoleto, winke der Rückseite der Burg, und mache mich in den Anstieg, von dem man mir im Hotel in Foligno erzählt hatte: Es würde lang, sehr lang und sehr steil werden. Viel Verkehr. Viel Gefahr. Naja, schauen wir mal.

Es kommt, wie sie versprochen hatten: Zunächst scheint mir die Sonne genau auf den Rücken. Nein, sie knallt. Fast kann ich physisch spüren, wie ihre Strahlen das Gewebe meines Trikots treffen, aufprallen, und die Hitze auf meine Haut, unter meine Haut pressen. Wasser, wertvolles Nass meines Körpers, angereichert mit noch wertvolleren Salzen, drücken sie heraus.

Tja. Und dann, dann kommt er: Der Anstieg. Merklich zieht es an, es geht nach oben. Vor mir, ich schaue ihn mir genau an, liegen knapp 2.000 Meter Rampe. Schnurgerade, steigend, keine Krümmung, nichts - nur Gradient nach oben. Und dann, da oben, kurz vor der hoch aufragenden Mauer eines grünen, waldüberwucherten Berges, da knickt sie nach rechts ab.

Einzusehen ist nicht, was hinter der Kurve kommt. Aber ich ahne, es wird keine Abfahrt sein. Nein, ich ahne eher, es wird weiter gehen. Nach oben. Nach oben. Immer nur nach oben - bis wir den Berg umrundet haben.

Ich behalte Recht. Ich triefe mich den Anstieg hinauf. Ich hinterlasse eine Tropfspur Schweiß, eine Blutspur, eine Tränenspur wertvolles Salz.

Wenn ich meinen Kopf nach oben bekomme - denn meine Nackenmuskulatur verweigert immer wieder ihren Dienst - sehe ich nichts als grüne Wände rings um mich herum und ein graues Band, dass immer mehr ansteigt. Steigt und steigt.

Schaue ich einmal nach unten, sehe ich glänzende Waden, angespannte Sehnen und Muskeln, schweißbedeckte Stränge, die sich mühen, eine Kurbel zu drehen.
Ein Held sieht anders aus.

Doch dann hört der Berg unter mir auf. Einfach so. Die Straße geht in Brücke über. Nahtlos, man merkt es kaum. Anfangs jedenfalls. Dann aber, als sich der Berghang hinter und unter mir immer weiter zurück zieht und ich beginne zu begreifen, dass sich diese Brücke hier in mindestens 100 Metern Höhe über eine tiefe Schlucht spannt, erreichen mich Böen, zerren fiese Winde an meinem Rad und zwingen mich zu höchster Konzentration - die Tifosi, die mich weiterhin mit über 100 km/h in ihren aufgemotzten Fiats überholen jedenfalls nehmen keine gesteigerte Rücksicht.

Nur eines frage ich mich: Wer bitte baut eine Brücke mit Anstieg über eine Schlucht?

Irgendwann schaffe ich es.
Irgendwann ist sie da, die letzte Kurve. Ich erreiche sie, nehme sie zur Kenntnis - keine Energie zu Freude. Kein erleichtertes Seufzen, ein Siegerfoto oder irgend eine Reaktion. Ich fahre über den Scheitelpunkt, registriere, dass sich die Pedale leichter treten, schalte hoch, je mehr sich die Fahrbahn senkt. Und dann, dann fahre ich um eine Kurve, die Straße taucht unter mir ab und dann erfasst mich der Sog der schiefen Ebene. Er zieht mich mit, beschleunigt mich, macht, dass mir Wind um die Ohren knallt, macht, dass der Freilauf ein Loblied auf die Abfahrt surrt.

Ich ducke mich weg, ducke mich und werde schneller, schneller und immer schneller. Schieße von einer Kurve in die nächste, lenke, korrigiere, trete mal, wenn es kurz flacher wird, bremse mal, wenn die serpentinenartigen Kurven zu eng werden. Dann schieße ich aus einem letzten Tunnel, eine letzte Abfahrt und erreiche meinen zweiten Rastpunkt: Terni.

Ankommen. Absteigen. Hinsetzen.

Ich setze mich zu einigen Herren, die angeregt in die Mittagshitze diskutieren, schaue auf der Karte nach, wo ich bin und trinke zwei Lipton Eistee nur so weg, dann mache ich mich an ein riesiges Panino mit Parma und Mozzarella - in der Steigung habe ich kaum gemerkt, wie sehr mir mein Magen schon krampfartig Warnsignale geschickt hatte: Kaum auszudenken, was ein Hungerast angerichtet hätte!

Sie plappern da neben mir, als gäbe es eiligst eine Revolution zu planen. Irgendwie angesteckt von ihnen sattle ich nach nur wenigen Minuten wieder mein Rad und fahre los, Terni zu durchqueren.

Über diese Stadt sagt mein Reisebegleiter Goethe:

"Das Städtchen liegt in einer köstlichen Gegend, die ich auf einem Rundgange her mit Freuden beschaute, am Anfang einer schönen Plaine, zwischen Bergen, die alle noch Kalk sind. Wie Bologna drüben, so ist Terni hüben an den Fuß des Gebirgs gesetzt."

Tja, den Fluss vermag ich nicht zu sehen, aber die paar Minuten, die ich in durch die Stadt schieße, erfreue ich mich an der pituresken Schönheit dieser kleinen Perle am Velino. Ich bedauere, dass ich mir den kleinen Abstecher zu den höchsten Wasserfällen Europas, den Cascata delle Marmore" nicht leisten kann, und trete wieder rein.

Hinter Terni empfängt mich zunächst wieder eine Bergkette, die ich aber nach kurzem Anstieg und eher verhaltener Abfahrt bezwinge.

Es wird flacher und flacher, die Berge weichen zurück, nur wenn ich mich umdrehe sehe ich, was ich gerade durchquert habe und nur, wenn ich nach vorne blicke öffnet sich jene Plaine, von der der Herr Weimarer Geheimrat schreibt: Terni, der Ausgang aus dem Gebirge. Ich habe es geschafft.

Denke ich.

Es geht durch einige kleine Dörfer. Die Straße wird enger und enger, auch lässt der Belag immer mehr zu wünschen übrig. Anscheinend haben die Kommunen oder der Staat für die Bergpässe mehr Geld, als für die ebenen Passagen. So muss ich ein ums andere Mal weg von meinem - eigentlich komfortabel breiten - Seitenstreifen und fahre bisweilen fast zur Gänze in der Mitte der Fahrbahn.

Freilich - es hupt niemand. Sie alle überholen zwar rasant, aber sicher.
Tja, ´s ist halt Ferrariland hier.

Es geht irgendwann wieder bergan, was zu verschmerzen ist, denn der Anstieg ist kaum der Rede wert. Aber der Gegenwind, der sich nun in meinem Rad, an meinem Körper und in meinem Helm verfängt, schickt sich an, mir den Nerv zu rauben.

Fiese Böen bremsen mich ruckartig auf niedrige Zwanziger ab. Ich habe Mühe, wieder zu beschleunigen, das ewige Schalten und vor allem das Wechseln vom kleinen aufs große Blatt und wieder vom großen aufs kleine Blatt raubt mir die Nerven.
Bald schon schreie ich genervt gegen den O2-Overkill an.

Den Windgott stört dies alles natürlich nicht. Im Gegenteil, er legt noch einen drauf: Im Bunde mit dem Steigungsgott.

Die Straße schickt sich an, wieder zur senkrechten Mauer zu werden.

Bevor ich diesen Ausblick genießen kann, kämpfe ich mich einige Kilometer eine immer absurder ansteigende, immer enger werdende, kleine Landstraße hinauf. Schaue ich nach oben, sehe ich immer mehr Serpentinen, mit jedem der teilweise 200 Jahre alten Passanten, die ich überhole, wird deren Lächeln breiter. Sie kennen das wohl, bin anscheinend nicht der erste Rennradler, der sich diese Steigung hier antut.

Irgendwann lese ich, was ich hier gerade verzweifelt versuche zu erreichen: Narni.

Oben angekommen passiere ich ein Stadttor aus dicken Feldsteinen. Aber die Straße nimmt hier nicht die Ebene an. Im Gegenteil, mit jedem Meter, dem ich dem Zentrum dieses Ortes entgegen komme, scheint der Gradient steiler zu werden. Absurd, stöhnen meine Muskeln. Aber es gibt keine Antwort: Keine Energie mehr fürs Hirn. Stupide verrichten die Beine, was ihnen am Fuße des Berges aufgetragen ward.

Irgendwann bin ich oben. Stehe da und sehe, was Narni ist: Eine Traumstadt. Eine, wie aus "Herr der Ringe". Abenteuerlich in den Fels gehauen, Gebäude kleben am Abhang. Weit unten, da im Tal, null Steigung, von der Moderne glatt gebügelt, schlängelt sich die Autobahn durch die Wälder. Aber hier oben, hier atme ich Italien. Sehe ich Geschichte - denn ich weiß, ich weiß es einfach, dass jeder Stein - auch jene kunstvoll aus einem Block gehauene Steinbank, auf der ich eine kleine Pause genieße - historisch ist.

Ob Goethe nicht auch hier auf dieser Felsterasse gesessen hat, dereinst? Hier, wo jetzt mein toller Carbon-Bolide so lässig am Gitter lehnt?

Alles ist so schön hier, so herrlich anzusehen. Italien, endlich verstehe ich, warum sie alle so begeistert sind von diesem Land, von seiner Schönheit, dieser Wildnis - dieser Natur. Oder ist es, weil jeder Stein, der abseits der alten römischen Handelsstraße Via Flamminia, auf der ich seit geraumen Kilometern meine Meilen abspule, wirklich Geschichte atmet?

"Was bin ich nicht den letzten 8 Wochen schuldig geworden an Freunden und Einsicht; aber auch Mühe hat mich´s gekostet. Ich halte die Augen nur immer offen und drücke mir die Gegenstände recht ein. Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre."

Recht hat er, der Herr Geheimrat: Hier strömen so viele Dinge auf mich ein, dass ich froh bin, sie abends halbwegs vollständig in meinem Reisetagebuch festhalten zu können.
So überwältigt mich hier alles, so vollkommen erlöst vom Alltag, frei sein: Hier bin ichs!

Ich stehe und genieße noch eine Weile den Ausblick. Gar zu schön um wahr zu sein, denke ich mir, und vergesse dabei, dass es bestimmt auch Nachteile hat, hier oben zu wohnen: Jeder Gang zum Supermarkt ist eine 30 Minuten-Fahrt nach Terni, jede Minute Freizeit hier wiederum ist Schaulaufen für entzückte Touristen - was mir als Durchreisenden reizende Idylle ist, mag für die Bewohner nervender Alltag sein.

Wie ist das, in Narni 17 Jahre alt zu sein? Gibt es hier eine Disko?

Ich blicke mich um, als ich die Stadt verlasse - hoch oben fahre ich auf dem schmalen Grat des Berges, auf dessen Rücken diese alte Stadt gebaut ist. Und ich freue mich in gespannter Erwartung: Sicher geht es bald genauso steil und rasant bergab, wie ich vorhin steil und absurd bergan gekommen bin.

Fehlanzeige. Kilometer um Kilometer schlängelt sich die Straße hoch oben auf dem Rücken des Berges entlang. Fast eine Stunde kurve ich herum - merke wohl aber, dass es stetig bergab geht. Aber so enttäuschend langsam, dass ich kaum je die 40er-Grenze durchbreche.

Langweilig wird mir dabei allerdings nicht, denn rings um mich herum breitet sich ein schönes, grünes Tal aus, in das gar lieblich die Sonne fällt. Fruchtbar mag es da unten sein: Ernten sie hier die Oliven, die ich so liebe?

Die Straße ist kaum befahren. Wahrscheinlich nehmen sie alle die Autobahn. Mir soll es recht sein. Ich habe Zeit, mich umzusehen, habe dank der leichten Abwärtstendenz der Straße kaum schwer zu treten und kann endlich auf dem Rad entspannen.

Was schwierig ist, denn sowohl Rücken als auch Beine melden langsam an, was mir in den Bergen schon klar war: Müde, sie sind müde. Die Steigungsarbeit fordert ihren Tribut.

Wann bin ich da?
20 Kilometer?
Eher 30, oder?

Mehr und mehr falle ich in Raddepression. Was vor einer halben Stunde noch höchste Verzückung hervorrufen konnte, prallt jetzt an meiner abgestumpften Laune ab: Ich kann einfach nicht mehr.

Der Gegenwind hat wieder zugenommen und je tiefer ich komme, desto stärker spüre ich ihn. Muss hart treten, muss wieder viel arbeiten für meine km/h.

Die Straße raubt mir wieder den Verstand. Das ist kein Belag, das sind antike Mosaike, die sie nur schlampig wieder zusammen gesetzt haben. Jede Rille, jedes noch so kleine Loch verursacht mir Schmerzen in Po und vor allem den Handgelenken.

Ausweichen ist mittlerweile sinnlos: Die ganze Fahrbahn ist ein Flickenteppich aus Asphaltfragmenten. Es scheint, als sei eine ganze Panzerarmee auf brutalem Vormarsch hier durchgekommen.
Und so hört sich auch das Geräusch an, das meine mit 8 bar unerbittlich harten Reifen auf diesem Untergrund erzeugen.

Rollen lassen?
No way!

Dann kommt sie doch, die Abfahrt. Kurzzeitig katapultiert sie mich auf 55 km/h - ich wundere mich noch, wie mein Carbon diese Schütteltour überhaupt abkann, und schon ist sie zu Ende.
Ich muss durch einen kleinen Wald - höre ein paar undurchdringliche Baumreihen neben mir die Autobahn - dann überquere ich selbige auf einer Brücke und finde mich in einer Ebene wieder.

Es ist heiß.
Brütend heiß. Stehenzubleiben bedeutet, sich der vollkommenen Windstille auszusetzen. Das ist, wie sich in einen Umluftherd zu begeben. Nur ohne Umluft. Ich kann den Schweiß verdampfen sehen. Selbst das ununterbrochene Zirpen der Grillen scheint angestrengt zu sein. Hier mögen es in der Sonne gut und gerne 47, 48 Grad sein.

Und dann: Ein Schild. Die Rettung! "Civita Castellana Centro" steht da.
Was? Schon zum Zentrum? Dann kann es ja nicht weit sein!
Neue Hoffnung keimt in mir. Ich nehme einen tiefen Zug aus der heißen Brühe, die einmal Eistee war und versuche, reinzutreten.

Ich trete und trete und trete mich in heiße Trance. Muss nur lächeln über die Schilder, die entlang der Allee stehen, und vom "Stadtzentrum" künden, wo hier noch nicht einmal eine Stadt ist, nichts, nur Felder, Bäume, die Ebene und diese flirrende Hitze, die mir alles Wasser aus den Adern zieht. Es wummert in meinem Kopf, Abkühlung, ich brauche Abkühlung. Meinem Reisegefährten Goethe kam die Fahrt auf eben derselben Straße so vor:

"Die Chaussee, die von der Höhe nach Civita Castellana geht, von eben diesem Stein Lava schön glatt gefahren, die Stadt auf vulkanischem Tuff gebaut, in welchem ich Asche, Bimsstein und Lavastücke zu entdecken glaubte. Vom Schlosse ist die Aussicht sehr schön; der Berg Soracte steht einzeln gar malerisch da, wahrscheinlich ein zu den Apenninen gehörender Kalkberg."


Auch ich blicke auf diesen Soracte, der vor mir, unerreichbar wie die Cheopspyramide als einzelner Obelisk aus der Ebene ragt. Dahinter, so denke ich mir, muss dann irgendwann Rom kommen.

Aber von Rom mag ich jetzt erst noch träumen. Ich schleppe mich die Straße entlang. In meinen Radschuhen herrschen Zustände wie kurz nach dem Urknall, denke ich mir, wehe dem Rezeptionisten, der mir gleich mein Zimmer verkaufen muss: Ich stinke bestimmt wie ein Berserker nach der Schlacht.

Doch noch immer keine Stadt. Keine Stadt, auf die mir Goethe so Lust gemacht hat.

Elend lang geht die Straße immer gerade aus. Am Ende - nichts. Rein gar nicht. Kein Ziel vor Augen, kein Fixpunkt, kein Ort, von dem ich sagen könnte: Da, da muss ich hin! Ist zwar noch weit weg, aber ich kann ihn sehen!
Nein, hier ist nichts.

Nur das Flimmern der Hitze auf dem Asphalt. Nur mein Geräusch von rasselnden Lungeln und klackernden Kettengliedern.
Durst.
Wasser.
Anhalten!

Der Impuls, jetzt und hier einfach nur zu stoppen, wird immer stärker. Einfach Schatten suchen. Anhalten. Hinsetzen. Einfach so. Stopp. Halt. Aus.

Und doch ...

Irgendwann bin ich da. Irgendwann sehe ich die Stadt auf dem Hügel hinter ihren mächtigen Mauern. Oben thront eine Kirche. Oben thronen Häuser. Und da oben, das weiß ich, da oben ist auch irgendwo ein Hotel, in dem ich gleich duschen kann.

Ich rattere - nachdem ich über eine schmale Brücke die Stadt betreten habe - über grobes Kopfsteinpflaster, frage einen Polizisten nach einem Hotel und der schickt mich nur eine dieser engen Gassen weiter.

Dann stehe ich vor dem 4-Sterne-Laden namens Relais Falisco. Wow, denke ich, das wird bestimmt keine Billigabsteige sein, und behalte Recht, als ich - etwas schüchtern und mir des Kontrasts, den ein durchgeschwitzter, fertiger, stinkender Rennradler hier zu dem geschmackvollen antiquarischen Ambiente abgeben muss, vollkommen bewusst. Das Interieur verspricht Oberklasseniveau.

80 Euro für das "große Einzelzimmer" will man inklusive Frühstück von mir haben. Na gern doch! Und wenige Minuten später steht meine 3,99 Reisetoilette im Bad neben den erlesenen Hotel-Shampoos.

Aus der Minibar hole ich mir glücklich und zufrieden ein eiskaltes Pils. Mache es mir gemütlich in meinem wirklich großen, ritterähnlichen Schlafgemach und massiere Creme in meine Beine: Denn die haben heute wirklich ganze Arbeit geleistet.

Dann nicke ich kurz weg, aber heftiges Magenknurren weckt mich. Ich ziehe mich an und suche die mitunter nur 2 Meter schmalen Gässchen nach einem Ristorante ab.

Ich komme an einer schönen Kapelle vorbei, blicke ins Tal von der dicken Stadtmauer hinab, höre weitab eine Mama ihr Mama mia mit den Kindern schimpfen und folge meiner Nase in eine Gaststätte, die sehr einladend aussieht.

Hier setze ich mich, lasse mir einen Viertelliter exzellenten umbrischen Hauswein bringen und bestelle eine wagenradgroße Pizza mit zentimeterdicken Lagen aus frischem Ruccola und Parma-Schinken.

Neben mir schnarren in gewohnt aufrdringlich-sympathischer Manier zwei Amerikanerinnen.

Es stellt sich heraus, dass die beiden aus meiner zweiten Lieblingsstadt der USA, aus Seattle kommen. Und als sie mich fragen, woher ich denn käme und was ich hier wohl so treiben würde, erzähle ich auch davon, dass ich in ihrer Heimatstadt Seattle vor genau einem Jahr meine Kanada-Tour beendet habe.

Da staunen sie und erzählen mir wiederum, dass sie sich auf einer 3-wöchigen Einkaufsreise für eine amerikanische Töpferwarenkette durch Italien, Spanien und Portugal befänden. Oha, mache ich da - auch keine unangenehme Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen ...

Rochelle und Melinda sind betroffen, als ich ihnen von den News des Tages erzähle - denn in Frankreich hat ein Monsterregenguss heute 15, 20 Todesopfer gefordert. Ein einziger Starkregen, das ist doch unglaublich, sage ich.

"Sounds like Texas", entgegenet Rochelle. Und da muss ich lachen.

Die Sonne geht unter, wir schlendern ins Hotel zurück, denn wie sich herausstellt ist das Relais das einzige Haus am Platze. Wir stehen im Rittersaal, der nun Foyer ist, ich verabschiede mich in die Internet-Ecke und schreibe meiner Süßen eine Liebes-Email, ehe auch ich die knarzende schwere Holztreppe hinauf in meine Kemenate steige.

Im TV läuft die Etappe der Tour de Suisse, ich mache mich noch ein Nastro Azzuro auf und lege die Beine hoch. Geschafft für heute, beglückwünsche ich mich und proste meinem Bike zu.

Und morgen, morgen dann Rom. Morgen, die 5te Etappe. Die fünfte und letzte Etappe - und dann endlich ein Ruhetag in der Stadt der Städte. Ein Ruhetag. Ruhe. Mal nicht treten. Mal nicht quälen. Mal nicht keuchen und dursten.

Rom. Wahnsinn!

Ich drehe mich um, schnaufe genüsslich ins Bett und halte es wie der Herr Geheimrat aus Weimar:

"Morgen abend also in Rom. Ich glaube es noch jetzt kaum, und wenn dieser Wunsch erfüllt ist, was soll ich mir nacher wünschen? Ich wüsste nichts, als als dass ich mit meinem Fasanenkahn glücklich zu Hause landen und meine Freunde gesund, froh und wohlwollend antreffen möge."

Nun, meine Reise wird in Rom durchaus noch nicht beendet sein, im Gegenteil, aber schön klingts trotzdem - und mit diesem Anklingen von Überwältigung, gespannter Erwartung und riesiger Vorfreude auf die ewige Stadt schlafe ich ein, dämmere in der Hitze weg und träume.



Etappe 4 - Foligno-Civita Castellana

Etappenlänge: 107,7 km
Fahrtzeit brutto: 4 h 30 min
Fahrtzeit netto: 3 h 57 min
Schnitt:
22,1 km/h


.

1 Kommentar:

  1. ziemlich abgefahren ... mit dem Rad auf der Autobahn und dann Pause in der Autobahnraststätte. Was der Geheimrat wohl dazu gesagt hätte?
    Schöne Ecke da unten!
    Grüße
    norbi62

    AntwortenLöschen