Tappa 7: nach Neapel

Vedi Napoli e poi muori! - steht bei Johann Wolfgang von Goethe im Reiseführer "Italienische Reise". Und das Motto will ich mir heute zu Eigen machen. Den Vesuv will ich sehen, die Napolitaner sehen.

Ich stehe früh auf - wie immer - labe mich am Frühstück neben der schweizerischen Beachvolleyball-Damenmannschaft (Oha!) und kann es gar nicht erwarten, meinen Renner vor die Tür zu schieben. Warum auch noch liegenbleiben? Heute Nacht hatte es so heftig gewittert, dass der Regen ein wahres Gehämmer auf dem Vordach meines Zimmers veranstaltet hatte - an Schlaf war nicht zu denken.

Ich bin froh, dass es wieder losgeht - Gaeta ist irgendwie nicht so mein Fall.

Immer wieder schaue ich unruhig hinterm Büffet auf die Straßen - zum Glück ist das Unwetter vorbei, der Asphalt aber glänzt noch feucht. Ich sitze da, genieße den wie immer hervorragenden Kaffee und bin irgendwie guter Dinge, dass ich heute trocken durchkomme.

Ich werde mich täuschen.

Die schweizerischen Blondinen quittieren meine zugegeben sportliche Erscheinung mit anerkennendem Lächeln, als sie sich zum Strand begeben und ich gerade vor der Herberge mein Rennrad startklar mache. Ein letzter Gruß, ein letzter Wink - schon trete ich in die Pedale und beschleunige rein R3 in Richtung Süden. Weiter, immer weiter - Süden!

Die Straße wird immer besser, zunächst führt sich mich nah am Wasser die Bucht entlang. Vor mir türmen sich harmlos tuende graue Wolken zu immer mächtigeren Wasserdampf-Bergen auf. Ein Omen? Allerdings, so lange die Sonne es noch immer schafft, mich zu erwärmen, mache ich mir keine Sorgen. Keine drei Kilometer hinter Gaeta schwitze ich schon wieder.

Na, dann kanns ja so schlimm nicht werden ...

Wie immer befahre ich die Superstrada, die zu dieser Zeit noch angenehm leer ist. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass sich der Verkehr südlich von Rom merklich entspannt hat. Kann es sein, dass alles in Norditalien, was 4 Räder hat, zur Hauptstadt strebt und man ansonsten seine Ruhe hat?

Königlich fährt es sich auf der breiten Straße ohne dass man dauernd überholt wird. So könnte es bleiben, denke ich mir.
Ich komme gut voran, 32, 34 km/h stehen auf dem Garmin-Display und ich spüre, dass ich heute gute Beine habe.

Blicke ich allerdings nach hinten, gen Gaeta, wird mir klarer, dass ich diese heute auch wirklich brauchen werde: Von hinten scheint mir ein Gewitter hinter her zu ziehen. Kaum merklich färbt es den Horizont schon in drohendes Dunkelblau.

Ein Grund mehr, Gas zu geben!

Links neben mir türmen sich die Berge auf, ein großartiger Anblick, wie sich die Wolken und Hochnebelbänke an den Hängen brechen. Klein kommt man sich vor hier, klein und langsam.

Ab und zu rauscht ein Auto an mir vorbei, aber tatsächlich ist die Gegenrichtung - nach Rom - wesentlich dichter befahren. Mir soll es recht sein.

Erste seichte Anstiege gesellen sich hinzu. Mehr und mehr steigt die Fahrbahn auf und ab, leider steigt auch die Fahrbahnbegrenzung häufig so hoch, dass ich neben mir nur noch Aluminium-Begrenzungen sehe und nicht mehr die schöne Landschaft.

Keinen Kilometer vor mir sichte ich dann die unverkennbare Silhouette eines Rennradfahrers. Und - wie immer - obwohl ich 4,5 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken durch den Wind polken muss, mir der Schweiß schon jetzt in Strömen die offene Brust hinabläuft - ich muss ihn haben!

Also lege ich noch 1, 2 km/h oben drauf und kurbele. Naja, denke ich mir, ich habe eh gleich die 30 Kilometer-Marke erreicht, dann will ich ja sowieso Pause machen. Langsam arbeite ich mich an ihn heran. Meter um Meter komme ich näher, stolz geschwillter Brust mit brennenden Waden rette ich mich mit einigen letzten, mächtigen Tritten in seinen Windschatten. Zwei, drei Minuten verharre ich dort, besehe mir sein Rad - ein älteres Pinarello-Modell - dann setze ich zum Überholen an.
Er grüßt nett und lächelt: "Ciao!", ruft er.
Ich nicke. Zu sehr schmerzen die Lungen.

Ich ziehe an ihm vorbei und entferne mich mit einem 35er Schnitt.
Als ich mich umdrehe, irgendwann später, kurbelt er direkt hinter mir im Windschatten.

"Verdammt!", denke ich, "ich kann nicht mehr!" Fahre Du doch mal vor! Los, nicht lutschen - auch mal ziehen! Aber Mr. Pinarello denkt nicht daran. Er macht es sich in meinem Sog gemütlich. Lange halte ich das nicht mehr aus ... lange halte ich das nicht ... lange halte ...

Pünktlich bei km 30 rettet mich eine Tankstelle mit großem Café. Ich winke, biege ab, er winkt und ruft zurück, kurbelt alleine weiter. Und ich. Bin gerettet.

Bei einer großen, eiskalten Flasche Wasser und zwei meterdick mit Parma-Schinken belegten Panini genieße ich es, einfach das heiße Blut durch meine Waden ziehen zu fühlen - und just als ich sitze, fegt ein Schauer über die Land schaft.

Ein Vorgeschmack?

Das dicke Ende kommt einige Kilometer und etwa eine Stunde später. Gerade so kann ich mich unter das Dach einer Tankstelle retten - vor mir ist der Himmel aufgerissen und lässt alles hinabprasseln, was sich so in Wolken anstauen kann. Das Gewitter von heute Nacht war ein Planschgeburtstag dagegen.

Ich merke es, kurz nachdem ich wieder von der Pause aufbreche: Die dunklen Wolken von Gaeta
haben mich längst schon eingeholt. Sie ziehen über mich hinweg, holen mich ein, verdunkeln zu erst die Sonne, dann den Rest vom Himmel - wenig später wabern dicke, nasse, schwarze Wolken am Himmel. Und dann geht es los ...

Ich fahre gerade auf der altbekannten SS 7, als mich die ersten Schauer einholen. Es ist zunächst nicht unangenehm: Die großen Regentropfen sind weich und kühlen samtig meine verschwitzte Haut, auch, dass es mir hinten in die Kimme spritzt, wenn die Fliehkraft den Regen ab einer bestimmten Geschwindigkeit so abspritzen lässt, dass mir literweise das Fahrbahnwasser hinten reinläuft, kann ich noch verschmerzen.

Nach wenigen Minuten aber kommt es dermaßen kraftvoll herab, dass sogar die Bleifuß-Tifosi nur noch mit 50 km/h fahren, ich selbst nichts mehr vor lauter Gisch sehen kann und die gesamte Fahrbahn sturzflutartig von einer 1 cm hohen Wasserschicht überspült wird. Es ist dunkel, es wird schlagartig kälter und jeder Meter, den ich - wenn auch vorsichtig - fahre, wird zur Lebensgefahr.

Ich halte unterwegs - natürlich ist weit und breit kein Baum, Unterschlupf oder Dachvorsprung zu sehen - an, um die Regenplane über meinen Rucksack zu stülpen. Zu spät, denn er ist schon völlig durchnässt.

So kämpfe ich mich einige Minuten durch den Monsun, erreiche mit letzter Not die Raststätte, biege mitten im fließenden Verkehr im Regensturm über die vierspurige Wasserstraße halsbrecherisch ab und erreiche vollkommen durchnässt, zitternd und frierend die Tanke.

"Scheiße!", kann ich nur brüllen, als ich aus meinen Sidi-Rennradschuhen etwa 1 Liter Wasser laufen lasse. Drinnen genieße ich fast eine Stunde lang einen Mocca nach dem anderen, während draußen eine Windhose im Regen tobt.

Dann ist schlagartig wieder eitel Sonnenschein.

Italien präsentiert sich von einer Minute auf die andere in schönstem Blau - die Regenwolken sind genauso blitzschnell weitergezogen, wie sie mich eingeholt hatten und ich kann mich endlich, bei seichtem, warmen Fahrtwind in der Sonne trocknen. Gänzlich werde ich die Nässe allerdings nicht los.

So behalte ich denn Castel Volturno als den Ort in Erinnerung, an dem ich das Unwetter überlebt habe.

Ich trete rein - frohen Mutes, das Schlimmste überstanden zu haben - und nähere mich Kilometer um Kilometer meinem Etappenziel Neapel. Von der großen Superstrada biege ich allerdings ab: Das Wasser steht hier auf der Fahrbahn und jede Kurve wird zu einem Risiko - ganz abgesehen davon, dass ich die Schlaglöcher, die es in Italien en masse gibt, nicht mehr rechtzeitig erkennen kann.

Mein Cervélo freilich klingt, nachdem Schaltwerk und Kette durch gefühlte 2.000 Liter schmutzigstes Regenwaser gejagdt worden sind, wie ein alter Königstiger auf dem Rückmarsch. Wahnsinn!

Irgendwo vor Pozzuoli überhole ich einen Scooter-Fahrer. Nur so, just for fun, um zu sehen, ob ich ihn kriege. Ich kriege ihn. Supergefühl. Gratulation.
Als ich mich aber zurückfallen und in seinem Windschatten ziehen lassen will, überholt er mich einfach nicht. Da klebt der kleine Italiener in meinem Schatten, grinst sich einen und knattert durch die heiße Pampa.

Na, so hatte ich mir das aber nicht vorgestellt!

Irgendwie schaffe ich es dann auch noch, falsch abzubiegen, und finde mich auf einer kleinen Straße wieder, die sich allenthalben serpentinenartig durch dichten Mischwald an irgend einem Abhang hinauf windet. Alles kommt mir recht spanisch vor, und so frage ich klönende Einheimische, wie ich am besten nach Neapel käme.

Einer der Männer bedeutet mir, ihm nachzufahren. Wie ein Teamwagen seinen Nachzüger führt er mich mit stetigen 35 km/h durch zwei verwinkelte Dörfer, ein paar Male unter Autobahnen auf Stelzen und allerlei verwinkelte Gassen hindurch, bis er anhält und meint: "Immer geradeaus!"

20 Minuten hat er sich Zeit genommen, um mich hier her zu bringen. Das nenne ich aber mal Hilfsbereitschaft! "Mille Grazie!", bedanke ich mich trete rein.

Was nun folgt ist alles andere, als ein triumphaler, erhebender Einzug in die gelobte Stadt - es scheint vielmehr ein Alptraum-Trip durch ein Kriegsgebiet zu werden. Die schnurgerade Chaussee ist kaum befahren - was das Angenehme ist - aber links und rechts finden sich nur Ruinen, Dreck und Herumlungernde wieder.

Es scheint, als sei ich um einige tausend Kilometer nach Tschetschenien versetzt worden, die Rote Arme ist gerade durchgezogen: Dreck, Verfallenes und Abgeranztes allenthalben. Und mit jedem Meter wird es schlimmer!

Ich traue mich nur zwei Fotos zu schießen, die massenhaft stehen zumeist Schwarze in Gruppen am Straßenrand mitten im Müll, rauchen, reden und starren mich an. Sind das die Armenvororte von Neapel? Italienische Favelas?

Keine Touristenbusse mehr. Keine Autos. Nur die schnurgerade Straße, Gangs, Ruinen und Müll.

Herr Goethe hatte damals mehr zu sehen und beschreibt es so:
Endlich erreichten wir die Plaine von Capua, bald danach Capua selbst, wo wir Mittag hielten. Nachmittag tat sich ein schönes, flaches Feld vor uns auf. Die Chaussee geht breit zwischen grünen Weizenfeldern durch, der Weizen ist wie ein Teppich und wohl spannenhoch. Pappeln sind reihenweise auf den Feldern gepflanzt, hoch ausgezweigt und Wein hinangezogen. So geht es bis Neapel hinein.

Na, der hatte Glück, denke ich mir und mache drei Kreuze, als ich endlich Pozzuoli, den schlimmsten Ort der Tour überhaupt, hinter mir lassen kann und mich einen Anstieg hinaufzukämpfen beginne, der sich am Ende als der Hausberg Neapels (neben dem Vesuv natürlich) entpuppt.

Es geht einige Kilometer sehr steil nach oben. Ich schwitze, bin fertig, meine Füße - noch immer in nassen Schuhen steckend - haben in dieser biotopischen Umgebung neue Pilz- und Schimmelarten gezüchtet, aber alles ist besser, als diese gruselige Geisterstadt von vorhin!

Oben angekommen empfängt mich eine kleine Aussichtsplattform, die ich sogleich für eine kleine Verschnaufpause nutze. Inmitten vom sprichwörtlichen neapolitanischen Müll mache ich es mir auf der Lehne einer Bank gemütlich und blicke voller Stolz in die Bucht unter mir: Geschafft!

Auf der anderen Seite, hinter dem Berg, liegt Neapel. Und dort, irgendwie, irgendwo, ein Schiff für mich.

Die Abfahrt hinab in die Metropole ist rasent schnell. Einen Seitenstreifen gibt es nicht, selbst wenn, ist er von so minderer Qualität, dass es gefährlicher ist, auf dem bröckeligen, löchrigen Randasphalt zu fahren, als sich inmitten der rasenden Autos auf der normalen Fahrbahn zu behaupten.

Mit knapp 60 Sachen kurve ich so im zunehmend hektischer werdenden Verkehr Neapels die Serpentinen hinab - die Hände fest am Lenker und die Bremshebel reaktionsbereit in den Fingern.

Alles geht gut und so schieße ich nach der rasanten Schussfahrt in die Stadt - geradewegs in eine nicht viel schöner als Pozzuoli aussehende Beton-Bettenburg, deren bröckelnde Fassaden auch nicht von großflächig angeklebten Werbeplakaten von türkisen Sandstränden ablenken lassen.

Schön ist Neapel also nicht, das steht schon einmal fest.

Ich kämpfe mich durch einige Seitengassen, muss aufpassen, denn hier wird gern auch noch auf gröbsten, rutschigen Steinstraßen gefahren, immer wieder durchkreuzt von schmierigen Straßenbahnschienen.

Irgendwann - komisch, wie einen der Riecher immer wieder ans Ziel bringt - erreiche ich die große Strandpromenade, die zu meiner Überraschung völlig autofrei ist. In feinstem Sonnenschein kann ich, die ganze Fahrbahn nutzend, am Ufer des Mittelmeeres entlang radeln.

Gemütlich, wie es sich gehört - nach der Schussfahrt durch den Monsumregen auch wirklich ein wohlverdienter Luxus.

Hinten schiebt er sich dann schon langsam ins Bild: Der Vesuv. Je weiter ich komme, desto bedrohlicher erhebt sich der spitze Vulkankegel über die Bucht von Neapel. Mächtig thornt die Bergkuppe inmitten dichter Wolken: Kaum vorstellbar, wie dieses Monstrum 79 nach Christus die römische Stadt Pompeij vernichtet hat.

So friedlich, so sonnig ist es hier. Und wenige Kilometer südlich der Tod. Konserviert und als Museum erhalten.

Besuchen werde ich Pompeij leider nicht können. Denn wie ich es gestern beschlossen habe, nachdem der schnieke Luftwaffen-Kachelmann bei der Wettervorhersage 5 Tage Dauerregen versprochen und ich heute eine mehr als deftige Kostprobe erhalten hatte, werde ich mir hier und heute ein Ticket nach Sizilien kaufen und spontan meine Reiseroute ändern.

Geplant war, den Stiefel bis Messina abzureiten und von Messina bis Catania mit dem Zug zu fahren. Nun aber werde ich wohl das (angeblich schönste) Stück Strecke von Neapel nach Messina mit der Fähre durchs Tirrenische Meer überbrücken, um dann die Kilometer von Palerma nach Catania zu machen.

Angesichts der Wetterlage eine weise Entscheidung.
Angesichts der Tatsache, dass ich mir morgen beim Ruhetag Pompeij anschauen wollte und die wunderschöne Amalfiküste verpassen werde, eine gleichermaßen Traurige dazu.

Und so kann ich Meister Vesuvio nur von Weitem sehen. Staunen und mir einreden, dass ich später dereinst zurück kehren werde, um mir dann nocheinmal alles in Ruhe anzuschauen. Allerdings: Nachdem sich mir in Japan schon der Fuji verweigert hatte, reiht sich dieser Fehlschlag nun irgendwie dann doch logisch in meine Radtouren-Geschichten ein.

Nun will ich mir aber erst einmal ein Ticket nach Sizilien kaufen.

Ich radle entspannt entlang der - leider sehr heruntergekommenen - Häuserfront am Hafen entlang und suche die Schalter. Meine Odyssee beginnt ...

Zunächst stehe ich vor einem geschlossenen Schalter, auf dem die Fährlinie nach "Sicilia" ausgeschildert ist. Keine Schlange, keine Leute, nichts. Komisch. Links und recht neben dem Verschlag haben andere Verschläge geöffnet und bieten Fährtickets an die Cote Azúr, nach Sardinien, Lampedusa und sonstwo - hunderte Leute stehen in der Schlange an - nur nach Sizilien will offensichtlich keiner.

Oder liegt das daran, dass heute Sonntag ist?

Ich frage einen, der etwas anhat, das halbwegs nach Uniform aussieht. "Boat to Sicilia?"
"Sempre, sempre!", schickt er mich ganz woanders hin. Offensichtlich soll ich der Hafenstraße noch eine Weile folgen. Andiamo!

Ich zwänge mich durch den schmalsten Gehweg der Welt - hier hat ein Städteplaner aber wirklich saubere Arbeit geleistet: der Weg ist wenige Zentimeter breit. Eine weitere Reihe Poller und zur Krönung ein fieses Verkehrsschild versperren mir den Weg.

Absurd - das sollte der ADFC daheim mal sehen!

Ich warte einen weiteren Schauer ab, dann schiebe ich mein Rennrad auf einen abgesperrten, absurd verlassen wirkenden Teil des Hafens. Verlassen, unaufgeräumt, chaotisch. Wie diese komische Stadt.

Im Kabuff schauen zwei gelangweilte Italiener zu lautes Fernsehen. Ich grüße, lege meinen Helm auf den Tisch und frage hinters Panzerglas, ob denn heute ein Schiff nach Sizilien gehe und wenn ja, was mich der Spaß kostenm würde.

Der freundliche Tifosi sagt mir, dass ich eine Kabine für 110 Euro haben könne.
In sechs Stunden.

Und gebucht!

Mein Schief liegt schon an der Pier - die SNAV "Sicilia". Ein wackerer, schöner, riesiger Kasten - keiner dieser Rostlauben, die mir in Griechenland so manches Magendrücken verursacht haben, nein, dieses schnieke Schiff sieht neu aus. Siaht stabil aus.

Aber was mache ich jetzt sechs Stunden lang?

Sechs Stunden, bis ich mir die nassen, stinkenden Klamotten ausziehen kann.
Sechs Stunden, bis ich die heiß dampfenden Schuhe, in denen bestimmt schon neuartige Algen und Moose wuchern, ausziehen kann.
Sechs Stunden.
Sechs Stunden?

Oha!

Anstatt mich - so abgeranzt und fertig ich vom durchstandenen Monsun fühle - in die Stadt zu begeben, um die wenige Zeit wenigstens zu einem kleinen Städteerlebnis zu nutzen, setze ich mich in eine kleine Brasserie, die direkt neben dem Ticketkabuff geöffnet hat.
Eine gute Entscheidung, denn nur wenige Minuten, nachdem ich mich hingesetzt habe, öffnet der Himmel wieder seine Pforten und es ergießt sich aufs Neue eine wahre Sintflut über die Stadt.

Ich sitze da - am letzten freien Tisch - und genieße den besten Salat der ganzen Tour, als gerade ein Schiff anlegt. Es strömen die Passagiere aus dem Blechkasten, viele an uns vorbei, einige ins Restaurant.

So auch eine lustig dreinblickende Party of three. Da kein Tisch mehr frei ist, biete ich ihnen die Stühle bei mir an. Sie willigen ein.

Artemisia, Francesco und Juliana sind so begeistert darüber, dass sie mir ein Nastro Azzuro ausgeben und mich ausgiebig ausfragen, wo ich denn herkäme, wo ich hinwolle und ob mir ihr Italien gefliele.

Ich erwidere ihr Interesse und frage wiederum sie aus.

Sie sind Neapolitaner. Mit Leib und Seele. Schwärmen von ihrer Stadt. Schwelgen in bunten Bildern, legen mir ihre Liebe in blumigstem Italo-Akzent zu Füßen.
Und stolz sind sie, die Drei. Oh ja. Können gar nicht verstehen, wie ich mich an den bisweilen 5 Meter hohen Müllbergen stören könne.

Nein, nein, stolz sind sie. Dem Herrn Geheimrat aus Weimar war das auch damals schon aufgefallen:

Dass kein Neapolitaner von seiner Stadt will, dass ihre Dichter von der Glückseligkeit der hiesigen Lage in gewaltigen Hyperbeln singen, ist ihnen nicht zu verdenken, und wenn auch wenn auch noch ein paar Vesuve in der Nachbarschaft stünden. Man mag sich hier an Rom garnicht zurück erinnern; gegen die hiesige freie Lage kommt einem die Hauptstadt der Welt im Tibergrunde wie ein altes, übelplatziertes Kloster vor.

Starke Worte!

Meinen überaus wohlschmeckenden Salat genieße ich umso mehr, als mir die Drei vol Sizilien vorschwärmen, von Orangenhainen erzählen, Bilder vom Ätna malen und mir eine Traumwelt vorschwärmten, dass mir ganz warm ums Herz wurde.

Nach dem Essen, nach ein, zwei Cappucchini, verabschiede ich mir herzlich von den drei Neapolitanern und muss nur noch eine Stunde überbrücken.
Mittlerweile hat sich auch schon eine stattliche Schlange an der Pier gebildet, eine seichte, schwarze Rauchfahne zieht auch schon vom mächtigen Schornstein des Schiffes und so reihe ich mich ein, nein, ich drängle mich vor. Stehe da, zwischen den vielen Autos, Trucks und Transportern und warte ein, zwei Schauer ab. Ungeduld.

Ich kann es gar nicht mehr erwarten - nun soll es aber bald losgehen! Auch Herrn Goethe scheint es so gegangen zu sein:

Ungeduldig verbrachten wir den Morgen bald am Ufer, bald im Kaffeehaus; endlich bestiegen wir zu Mittag das Schiff und genossen beim schönsten Wetterdes herrlichsten Anblicks. Unfern vom Molo lag die Korvette vor Anker. Bei klarer Sonne eine dunstreiche Atmosphäre, daher die beschatteten Felsenwände von Sorento vom schönsten Blau. Das beleuchtete, lebendige Neapel glänzte von allen Farben. Erst mit Sonnenuntergang bewegte sich das Schiff.

Na, endlich!
Da bewegt sich am Heck etwas. Sie lassen die Rampe hinab.
Männer in Overalls rennen herum.
Dann dürfen wir an Bord.

Ich muss innerlich schreien, als ein 150 Kilo-Mann meinen Carbonrahmen mittels zwei Dutzend Schlaufen eines groben Seils an die Stahlspanten des Autodecks schnürt. Der Rahmen hält - mein Herz pumpt auf 200.

Durch die Gänge raufe ich, suche meine Kabine. Und überlege die ganze Zeit, warum ich Idiot nicht auf einer Einzelkabine bestanden habe. Nun male ich mir aus, dass dann da gleich ein dicker, schwitzender, Betrunkener Truckerfahrer das Bett unter mir nehmen wird, die ganze Nacht schnarchen und furzen wird. Und ich Idiot habe ein paar zehn Euro gespart.

Aufgemerkt: Das Schiff legt ab.
Ein kleiner Ruck und es geht los.

Mein Kabinengenosse lässt auf sich warten. So gehe ich duschen. So ziehe ich mich um. So räkele ich mich auf dem breiten Unterbett - lasse das schmale Oberbett eingeklappt.

Auch, nachdem wir schon fast eine Stunde an Bord sind, lässt er sich nicht blicken.
Und dann dämmert es mir: Die beiden Kabuff-Tifosi, die so gutgelaunt meine Visa-Karte durch den Schlitz gezogen hatten. Tja, diese beiden hatten mir so ganz nebenbei schlitzohrig eine teure Einzelkabine verkauft.

Aber hey, denke ich mir, und blicke glücklich aus meinem Bullauge: 110 Euro und "teuer"?
Kopfschüttelnd und froh furze ich in meine Kabine und gehe essen.

Aber anstelle der sonst so fantastischen italienischen Küche erwartet mich Normaloconvenience-Food, ich sitze in Friteusen-Odeur und lediglich das frische, kalte Nastro Azzuro ist ein Lichtblick in dieser dunklen Essenküchennacht.

Nachdem ich satt bin mache ich es wie alle meiner Leidensgenossen auch, lasse den kläglichen Rest vom Abendessen stehen und begebe mich an die Reling, denn dort draußen zieht er gerade langsam vorbei an uns, der mächtige Vesuvio.

Am Fuße des Berges funkelt eine schicke Brillantenkette aus warmen Lichtern. Menschen leben dort, so nahe in der Vertikalen, gar nicht weit weg vom Vulkan. Wahnsinn.

Langsam wippend schiebt sich die SNAV Sicilia ins Dunkel. Langsam bleibt auch der Feuerberg zurück - heute ruhig. Heute ruhig wie das Meer.
Ich sauge noch ein paar volle Lungen frische Luft, ehe ich mich in meine Kabine begebe.

Einer dieser unangenehmen Jobs jeden Abend, heute muss ich ihn natürlich auch absolvieren: Meine dreckigen, durchgeschwitzten Klamotten wollen gewaschen werden. Heute umso mehr, als dass sie stundenlang völlig durchnässt an meinem heißenden, sich bewegenden und immer mehr schwitzenden Körper geklebt haben.

Die Handschuhe riechen schon so, dass es einem den Abend verderben könnte.
Trikot und Hose gehen.
Aber die Einlegesohlen meiner Socken und die Socken selbst, ziehen mir sprichwörtlich selbige aus. Also, mal ehrlich - gegen diese Waschaktion hätte selbst jeder schmierige Trucker im wahrsten Sinne des Wortes abgestunken!

Ich liege in meiner Kajüte. Mache das Licht aus. Wippe im Takt der Wellen und lasse den Tag Revue passieren: Keine 100 Kilometer gefahren, aber Holla! Was für ein Wechselspiel der Gefühle, was für eine Wasserschlacht!

Wasserschlacht.

Wasser ... denke ich noch und schlafe endlich irgendwann ein.




Etappe 7 - Gaeta-Neapel

Etappenlänge: 97,26 km
Fahrtzeit brutto: 4 h 15 min
Fahrtzeit netto: 3 h 10 min
Schnitt:
28,1 km/h

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