in Venedig

Was der Herr Geheimrat rät ...

Ich mag Goethe. Ehrlich. Schon in der Schule liebte ich den "Faust" zu lesen, verschlang ich der Tragödie zweiten Teil nur so. Und als Vorbereitung auf meinen Giro kaufe ich mir einfach mal die "Italienische Reise" - wenn dieses schon zum Kassenschlager "Go, Trabi go!" als roter Faden diente, warum nicht auch meiner Rennrad-Tour?

Der Herr Geheimrat schreibt in dem - überraschend prosaisch, witzig und kurzweilig gehaltenen - Reisebericht über Venedig folgenden herrlichen Einleitungstext:

"Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mussten an Höhe gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt, ließen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausbreite von der gegenüber stehenden zu trennen und dem Bürger notdürftige Durchgänge zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer musste eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn Venedig auch nur mit sich selbst vergleichen kann. Der große und schlangenförmig gewundene Kanal weicht keiner Straße in der Welt, dem Markusplatze kann wohl nichts an die Seite gesetzt werden. Ich meine den großen Wasserspiegel, der diesseits von dem eigentlichen Venedig im halben Mond umfasst wird. Über der Wasserfläche sieht man links die Insel St. Giorgio Maggiore, etwas weiter rechts die Giudecca und ihren Kanal Grande, wo uns gleich ein paar ungeheure Marmortempel entgegenleuchten. Dies sind mit wenigen Zügen die Hauptgegenstände die uns ins Auge fallen, wenn wir zwischen den zwei Säulen des Markusplatzes hervortreten."

Schön, oder?

Doch bevor es auch bei mir so weit ist, war es ein weiter weg. Kürzer, aber nerviger als die weitaus spannendere Anreise, die der Herr Goethe aus Karlsbad kommend in Postkutschen über die Alpen hinter sich zu bringen hatte - muss ich doch in einen der Ferienbomber steigen.

Aber hier schon die erste Überraschung, gleich am Flughafen Hamburg: Mein Gepäck ist zu schwer. Genau 2,2 Kilogramm zeigt die Waage zu viel an. Oha, denke ich mit Schrecken an meine 8 Kilo Übergepäck, die ich irgendwie auf dem Flughafen Tokio erklären wollte - was keinen Sinn hatte und mich am Ende knapp 800 Euro Nachzahlung gekostet haben.

Die freundliche Lady von Air Berlin lächelt mich an, zwinkert mir zu und klebt den Barcodestreifen auf meinen Rennradkoffer. Wow, denke ich mir und mache in Gedanken einen Haken - Air Berlin, das könnte meine neue Lieblingsairline werden.

Die zweite Überraschung kommt beim Durchleuchten meiner 4 Kilogramm Handgepäck. Die Dame ruft zwei Herren von der Bundespolizei. Mit ernster Miene lassen sie mich den Drehmomentschlüssel aus dem Gepäck ziehen. Terrorschlüssel. Mit 8 Bits.

"Werkzeug ist verboten.", sagt er nur knapp. "Einchecken oder hier lassen."

Ich gehe wieder zur Zwinkerlady.
Mit einem Doppelzwinker checkt sie mein zweites - an sich auch kostenpflichtiges - Gepäckstück ein und wünscht mir einen guten Flug.

Nun also offiziell: Air Berlin ist meine neue Lieblinsairline!

Tausche 10 Grad Niesel gegen 35 Grad Sonnenschein ...

Der Flug ist ruhig, die Maschine überraschenderweise nur halbvoll. Nanu? Wollen denn gar nicht so viele in den Süden? Doch ich habe Glück, denn im sonst stillen Flieger sitzen die zwei am lautesten schnatternden Damen denn dann auch genau vor mir. Sie wollen offensichtlich zum Shopping - sie sind die gesamten eineinhalb Stunden nur am Schnacken.

Ich ergötze mich an den Alpen, die, wie ich mir vorstelle, mit dem Rennrad zu bezwingen sicher auch ein Spaß sondergleichen sein muss. Es wird in den Aufwinden der Berge etwas ruppig. Die Schnattertaschen sind für ein paar Minuten ruhig.
Danke Captain, das war auch mal höchste Zeit.

Wir landen in Venedig und ich kann von meinem Fenster aus da - da ganz hinten - die Glockentürme und Kirchen der Stadt erkennen. Viele machen sich von Venedig ein falsches Bild und denken, dass es einfach nur eine Stadt auf Stelzen sei. Das stimmt zwar, aber vielen ist nicht bewusst, dass DAS Venedig aus zwei in einander verschlungenen Inseln besteht, die mitten in einer Lagune sind. Vom Festland sind das einige Kilometer.

Ich steige aus der Blechröhre und mich trifft erst einmal der Schlag: Es sind bestimmt 35 Grad im Schatten, es ist Mittag und die Sonne knallt unbarmherzig von einem makellosen Himmel herab. Ich schwitze sofort.
Wenigstens ist das Terminal gut gekühlt.

Hat mein Bike die Reise überstanden? Zwar habe ich einen Hardcase-Koffer für das Rennrad gekauft, jede einzelne Carbonstrebe, jedes Teil sorgfältig und mehrmals mit Bubble-Wrap gesichert - und trotzdem ... Zweifel bleiben.

Ein freundlicher Afrikaner rollt das Case raus.

Zwar sind meine obligatorischen "Tour of Italy - EuroSport"-Aufkleber etwas zerkratzt, aber die TV-Logos, die ich mir bei meinen Reisen immer auf die Kisten klebe, scheinen gute Arbeit zu leisten: Es ist nicht beschädigt. Klar, wie es dem Carbon innen ergangen ist, werde ich erst im Hotel sehen können.

Italienisch für Anfänger: Eine Taxifahrt, Lektion 1

Draußen wartet ein Schild mit einem Taxifahrer auf mich. Mein Hotel stellt einen Transferservice für 60 Euro zur Verfügung, das alles in einem großen Van. Also wird der auch genutzt.

"Buon Giorno!", verbeugt sich der drahtige kleine Herr. Offensichtlich kein Italiener, aber zumindest benimmt er sich so - flexig zuckelt er vor mir her, als er meinem Koffer und mir den Weg durch die Touristenmassen und Wartenden am Terminal bahnt.

Draußen schimpft er dann erst ein mal gemeinsam mit 2 Taxifahrern und einer dicken Dame am Parkautomaten den Computer aus. Wenig später sitze ich im Van.

"It´s hot here!", versuche ich ein Gespräch zu beginnen.
Er grinst und nickt beflissentlich, lässt den Motor gleich mal mit 7.000 Umdrehungen aufheulen, schaut mich an und sagt: "Aldo ... my name."
Aha.

Dann gibt er Gas.

Die etwa 65 Meter vom Parkplatz zur Automatikschranke überbrückt der betagte Van mit einem Mikro-Warpsprung. Bei der irren Beschleunigung, die Aldo im engen - voller ebenfalls ein- und ausparkenden Autos nur so wimmelnden - Parkplatz vollführt, werde ich in den Sitz gepresst. Hinten schlägt mein Bike-Case an die Heckscheibe.

An der Schranke kommt es zu einem Stau. Ein ganz Kluger hat seine Parkgebühren nicht bezahlt, muss nun aussteigen, zurück zum Terminal laufen, bezahlen, wieder herkommen und dann sollte es weitergehen.

"Studpido! Stupido!", höre ich nur heraus, als Aldo seine Hasstirade startet. Wir stehen mit etwa 20 anderen Autos in einer Schlange. Unter einem Hupkonzert sondergleichen geht der arme Mann zum Bezahlen. Aber nicht, dass Aldo diese Zeit nutzen würde, um etwa den Gang heraus, den Fuß von der Kupplung und Vortrieb aus dem Auto zu nehmen - nein, er hält die Drehzahl stringent über 5.000 und rollt - ab und zu hupend - in Zentimeterschritten auf das in der Schlange vor uns wartende Auto auf.

Automatische Einparkhilfen würden jetzt spätestens aufgeben. Nur Millimeter vor der Stoßstange kommen wir zum stehen.

Während dessen hat sich neben uns, von rechts kommend, ein Audi in die etwa einen Meter breite Lücke zwischen uns und unserem Hintermann gedrängt - wie zur Hölle er das geschafft hat, ist mir bis heute ein Rätsel.

Irgendwann geht es dann los. Aldo schiebt den Magnetstreifen durch das Gerät, die Schranke öffnet sich und er kann Gas geben. Vorher schaut er mich an, lächelt, sagt etwas sehr langes auf Italienisch, ich höre die Worte "Traffic" und "Mafia" raus, dann durchbricht unser Hyundai die Schallmauer und ich habe Druck auf den Ohren.


Größere Kartenansicht

Selbst in den Kreisverkehren, die uns sicher vom Airport weg leiten, bremst er (und die anderen auch nicht) kaum ab. Auf den Geraden - und wir sind noch immer innerhalb Venedigs - schafft es Aldo auf stattliche 150 km/h. Ich weiß nicht, ob ich grinsen, Angst haben, den Airbag checken oder beten soll. Im Radio läuft "Voooooolare ..."

Die Fahrt wird etwa eine halbe Stunde dauern. Mein Hotel befindet sich in Cavallino-Treporti. Oder ich sollte sagen AUF Treporti, denn ich habe mir die nördlichste der drei Inseln, die die Lagune Venedigs zum Meer her abriegeln, für mein Domizil ausgesucht.

Es ist das Hotel Ca di´Valle. Bevor wir ankommen - immerhin müssen wir eine Riesenschleife fahren - begegnen wir dem ersten Rennradfahrer. Gekrümmt vor dem Wind Deckung suchend hockt er auf seiner Maschine. Ich rufe in den Motorenlärm (alle Fenster sind offen, was ab etwa 100 km/h zu sehr interessanten Wechselspielen mit dem Trommelfell führt und zudem zur Geräuschkulisse enorm beiträgt) "Ah - Bicicletta da Corsa!", das Einzige, was ich auf Italienisch kann.

"Si, si!", macht Aldo da.
"I cycle to Catania - on Bici da Corsa.", spreche ich weiter.
"You?!"
"Si!"
"Oh, va bene! Molto belissimo!", sagt er und lobt das Rennrad und den schönen Sport, die Anmut, die Kraft, die Taktik und das Leiden beim Kurbeln - denke ich mir, denn Aldo referiert in Sätzen ohne Komma und Punkt - und zieht mitten im Loblied auf die Rennradfahrer nur wenige Zentimeter neben dem Radler mit etwa 160 Sachen vorbei.

Na, denke ich mir - das kann ja heiter werden!

Für eine schöne Manne ... steht sie gerne aufe

Die Horrorfahrt endet. Ich steige aus. Zittere. Aldo klopft mir auf die Schulter. Ich stehe an der Rezeption und die Mama gibt mir meinen Schlüssel. Alles in perfektem Deutsch.
Dann ruft sie ihre Tochter.

Ein hübsches Ding, keine 23 Jahre alt, kommt hinter dem Tresen hervor.
"Sie wirde Ihnen Ihre Zimmere zeigene ...", sagt Mama.
"Ach, das finde ich schon, ist okay."
"No, no, no - für eine schöne Manne steht sie gerne aufe ..."
Töchterchen grinst.
Sie überragt mich um mehr als einen Kopf.

Oben im Zimmer genieße ich nur kurz den Blick von meinem Balkon auf den Pool - weiter hinten höre und sehe ich das Meer rauschen.

Meine größte Sorge ist erst einmal das Fahrrad. Der Koffer ist zwar geräumig, es passte auch alles hinein, aber nur unter Druck. Und ob alle meine Speichen, Streben und Züge den dann doch bestimmt ruppigen Transport überlebt haben, ist fraglich.

Eine Freundin, die auch Rennrad fährt, sagte mir das mal so: "Mit Carbon ist es so: Stell Dir vor, Du hast einen Panzer. Und den stellst Du auf nur vier Glasgläser. Das geht. Geht wirklich. Wenn Du es clever anstellst. Aber dann, dann ist so viel Spannung auf den Gläsern, dass ein kleiner - Schnipps - genügt, uns alles macht KAWUMMM!!!"

Na denn, denke ich mir, schließe das Case auf und packe zunächst erwarungsvoll gespannt die Laufräder aus. Mavic R-Sys, nicht das billigste Material. Wenn da was im Arsch wäre - selbst wenns nur eine Speiche sei - woher hier, hier draußen eine Carbonspeiche bekommen? Und dann wieder mit ... Aldo zum Radladen düsen? Noch so eine Fahrt überlebe ich nicht!

Aber siehe - alles ist sicher und schön, wohlbehalten und intakt angekommen. Ich wickle Rahmen, Laufräder, Schaltung, Lenker und Sattel aus, baue alles wieder zusammen. Carbon-Montagepaste klebt mir überall, mittlerweile agiere ich nackt, denn es ist dermaßen heiß, dass ich mich aller Klamotten entledigt habe.

Klimaanlagen bleiben bei mir sowieso immer aus.

Ich pumpe meine Conti GP 4000 mit meiner kleinen Handpumpe auf. Und die Dinger auf 8 bar zu bekommen ohne Standpumpe ist ... ein spaßiger Job. Nach einem Laufrad tut mir alles weh. Aber ich zwinge mich, auch das Zweite noch prall und hart zu füllen.

Dann plündere ich erst einmal die Minibar.

Irgendwann steht mein Cervélo dann fertig aufgebaut, ausgerichtet und noch mal liebevoll geputzt in der Ecke, ich stelle mich verschwitzt auf den Balkon, dann unter die Dusche und erstein hartes Magengrummeln kann mich motivieren, mir Klamotten anzuziehen und das Hotel auf der Suche nach Essbarem zu verlassen.

Italienisch für Anfänger Lektion 2: Siesta ist heilig

Cavallino ist zwar voller Restaurants. Die haben nur alle zu. Es ist 14 Uhr Uhr durch und ich muss überall lesen, dass hier erst wieder zum Abendessen, also 19:30 Uhr, geöffnet werden würde.

Ich gehe die Straße ein paar hundert Schritte zum Strand. Na, hier muss es doch was geben! Es kann doch nicht sein, dass hier Millionen Leute am Strand liegen und keiner was zu Essen bekommt! Oder haben die alle Stullen dabei? Wohl kaum ...

Millionen Badegäste? Der Strand ist leer. Schirme zusammen geklappt. Liegen leer. Keine Handtücher. Nichts. Vereinzelt laufen ein paar Bikinidamen durch den Ständerwald, von ganz hinten wummert ein Auto Deppentechno in die Adria ... aber von Urlaubswut, Touristenschwämme ... hier ist nix zu sehen.

Und ich habe Hunger!

Ich finde ein kleines Strandlokal. Da bestelle ich mir Tramezzini. Kennt man aus Deutschland. Lecker. Hier sind das nichts weiter als Toastbrotecken mit Schinken (wenigstens Parma) und ohne Rand. Na, der Magen ist voll. Wenigstens das.

Ich bummle am Strand herum, suche nach einer schönen Start-Muschel für meine Süße und wundere mich, dass Italien bisher so ganz und gar nicht das ist, was ich mir vorgestellt hatte. Wesentlich ruhiger, beschaulicher - ja - irgendwie angestaubt, spießig.

Oder kommt das noch?

Als dann meine blonde Bedienung (Ferienjobberin aus Schweden) mit ihren beiden blonden Kolleginnen (eine Deutsche, die andere aus ... Schweden) schnacken, habe ich keine weiteren Fragen mehr. Wahrscheinlich liegen die richtigen Italiener jetzt im Bett und halten Siesta oder sie sind alle in Deutschland.

Schauen sich Neuschwanstein an oder so.

Abends bekomme ich im Ristorante vor dem Hotel richtig geile Spaghetti mit Jakobsmuscheln, ich schlafe sanft und ruhig, der Fiat Punto mit dem Deppentechno ist irgendwann auch verschwunden und so kann ich am nächsten Morgen mein Frühstück am Pool so richtig genießen.

Heute habe ich noch einen Aklimatisierungstag. Den will ich nutzen, um mir Venedig anzuschauen. Ich frühstücke zu Ende, lasse mir eins ums andere mal einen dieser leckeren Capucchini bringen und breche gegen 9 Uhr auf.

Auf nach Venedig!

Was zunächst eine kleine Busfahrt für mich bedeutet. Im Hotel kaufe ich zwei Tickets, der Bus geht 8:50 Uhr und so stehe ich zehn Minuten früher am Bushalteschild und warte.
Autos ziehen vorbei.
Reisebusse karren gruppenweise zahlende Touristen zur Fähre.
Nur der Insel-ÖPNV lässt warten.

8:50 Uhr. Nichts geschieht. Mittlerweile wartet eine Italienerin mit mir.
9:00 Uhr. Langsam wird sie ungeduldig, fängt an, in Aldo-Manier leise in sich hinein zu fluchen.
9:10 Uhr. Immer noch kein Bus zu sehen. Eine andere Dame stößt zu uns, fragt die eine wo denn der Bus bliebe, da bricht es aus ihr heraus, all ihr italienischer Eifer, die südländische Emotion, die Mafia, der Euro-Ärger, Berlusconi, der sie verarscht hat und überhaupt. Sie wettert, sie gestikuliert, sie schreit fast.

Ich gehe dann mal - in einer Stunde soll ja der nächste Bus kommen. Im Weggehen höre ich noch "... Italia! Mama mia!" und als ich 100 Meter von der Haltestelle weg bin, drehe ich mich um - der Bus fährt vor.

Ich kann natürlich laufen wie ich will, der Bus fährt mir vor der Nase weg - 50 Minuten später sitze ich im nächsten. Weitere 20 Minuten später bin ich an Bord des Wassertaxis.

Alles wie erwartet - und mehr.

Alles drängelt und schubst, als das Wassertaxi endlich kommt. Erstaunlich wenigTouristen, wie ich finde - dafür eine Menge Italiener. Kann es sein, dass Cavallino-Treporti keine Tourihochburg ist? Kann ich mir kaum vorstellen. Aber ich mags.

Ich ergattere einen Platz ganz hinten, sitze zwischen einer dicken Mama und ihrem dicken Kind und höre zwei Amis zu, wie sie sich über das wunderschöne Türkis der Lagune unterhalten, als vorne im Boot auf einmal Hektik ausbricht.

Auch bei uns hinten werden auf ein mal die Fotoapparate herausgekramt, Leute stehen auf, viele rennen nach vorne. Und einer ums andere nuschelt es: "... Venezia!"
Na, da muss ich aber auch mal aufstehen!

Ich drängle mich zwischen die Fotografierenden und erkenne, wie die markante Silhouette der Stadt auf Stelzen aus dem Morgendunst erscheint. Campanile - der hohe Markusturm - und die Basilika kann man schon sehr schön erkennen.
Ich muss zugeben, es sieht herrlich aus.

Venedig, da bin ich!

Ich steige aus und lenke meine Schritte zunächst ein paar hunder Meter - und über die ersten beiden Kanäle - zum Markusplatz. Zentrum und Mittelpunkt der beiden durch den Canal Grande zerteilten Hauptinseln.

Ich durchschreite die beiden Säulen - auf der einen das Wappentier Venedigs, der Bucentaur - und schaue geblendet blinzelnd in die Sonne. Die Galerie del´Uffici ist unbeschreiblich schön. Auch wenn die Fassaden gelitten haben und man hier und da den Zahn der Zeit (und sicher auch die Wirkung von salziger Seeluft und salzigem Wasser vom Grunde her erkennt) so muss ich doch sagen, ist dieses Ensemble eines der schönsten Plätze, die ich je besehen durfte.

Auch die Massen an - vor allem amerikanischen und russischen - Touristen, die sich hier tummeln, werden kaum bemerkt, da die hohe Architektur ihr Schnattern und Rufen, ihr Staunen und Quatschen verschluckt und hinwegbügelt.

Die unvermeidlichen Tauben. Ich sehe nicht viele. Nur eine kleine Frau in Pink füttert die Tiere, lockt sie an uns lässt sich von ihnen in Beschlag nehmen. Wie ihr Pink wohl heute Abend aussehen mag?

Ich kann Tauben nicht leiden, schon gar nicht die Vorstellung, was diese Ratten der Lüfte so alles in ihrem Gefieder tragen und nun auf ihrem Stoff ablassen, uns so kann ich die Amis nicht verstehen, die Minuten verbringen, um der Mutter beim Vögelfüttern zuzuschauen.

Goethe schreibt weiter über Venedig:

"Und da es eben Sonntag war, fiel mir die große Unreinlichkeit der Straßen auf, worüber ich meine Betrachtungen anstellen musste. Es ist wohl eine Art von Polizei in diesem Artikel, die Leute schieben den Kehrig in die Ecken, auch sehe ich große Schiffe hin und wider fahren, die an manchen Orten stille liegen und das Kehrig mitnehmen, Leute von den Inseln umher, welche des Düngers bedürfen; aber es ist in diesen Anstalten weder Folge noch Strenge, und desto unverzeihlicher die Unreinlichkeit der Stadt, da sie ganz zur Reinlichkeit angelegt worden, so gut als irgendeine holländische."

Auch das hatte ich schon von manchem Venedig-Besucher gehört - es soll dreckig sein hier, ja, sogar himmelhoch stinken.

Als ich mich in einige engere, abseits gelegene Teile der Stadt verkrümele - um dem babylonischen Touristengeschnatter zu entgehen - muss ich sagen, dass ich den Herrn Weimarer Geheimrat und auch meine bekannten Venedigbesucher widerlegen muss: Weder stinkt die Stadt noch ist sie unrein.

Weder die Hauptgassen - gesäumt von Hilfiger, Gucci, Vuitton- und allerlei ähnlichen Luxusshops - noch die kleinen Gassen, die Wohnquartiere und dort, wo der echte Venezianer lebt, sind irgendwie dreckig gewesen.

Obschon ich keinen einzigen öffentlichen Eimer fand, wo ich hätte meine Magnumeis-Verpackung entsorgen können, lag doch weder Dreck noch Unrat in den Straßen. Und der Geruch - eine duftende Melange aus altem Stein und frischer See.

Liebeskummer, Hunger und Gottseidank spielt kein Quartett.

So streife ich durch die Gassen. Ein ums andere mal piept mein Handy - SMS von meiner Süßen, die ich so vermisse. Gerade hier
, gerade jetzt, gerade in dieser Stadt, die so gemacht für Verliebte, stromere ich alleine durch die Geschichte und sie packt daheim die Koffer für ihren Urlaub.

Vermissen tut weh. In Venedig potenziert.

Ich nehme mir an der Touristen-Info einen Plan der Stadt mit. Neben den Luxus-Shops, die hier mit Logo eingetragen sind, gibt es sogar kleine Hinweise auf die architektonischen Leckerbissen der Stadt und so ist es mir ein leichtes, die einzige Verbindung der beiden Hauptinseln zu finden, die man trockenen Fußes und ohne Gondel nutzen kann: Die Ponte Rialto.

Der Touristenrückstau beginnt schon in den Häusergässchen vor der Brücke und so habe ich einige Mühe, mich ans Ufer und zu einer schönen Aussicht durchzukämpfen, wo ich einen freien Blick einer der wohl berühmtesten Brücken der Welt haben kann.

Die Leute quetschen sich zähflüssig über die Marmorstufen. Im überdachten Innenbereich bieten fliegende Händler und kleine Shops allerlei Nepp und Tünnef dem Touristrom zum Kaufe dar. Auch ich kämpfe mich durch - vor mir eine Gruppe amerikanischer Mädchen, die wohl gerade vom Airport kommen, völlig übermüdet sind und krampfhaft versuchen, ihre prall gefüllten Rollkoffer die scharfen Stufen hochzuwuchten.

Von oben genieße ich - nur kurz - einen grandiosen Ausblick auf den Canal Grande. Schiffe, Wassertaxen, Gondeln wimmeln ein Gewusel in das Wasser, ein Ballett, choreografiert, irgendwie, wobei ich keine "Straßenordnung" erkennen kann - denn die fahren weder links noch rechts, es scheint, als dass sie sich per Hand- oder Augenzeichen verständigen.

Irgendwo singt einer "O sole mio ..." und ich bekomme den Ellenbogen einer stark parfümierten Dame in die Rippen - Ponte Rialto, hier wird um die beste Fotoposition gekämpft.

Irgendwie gerate ich wieder abseits der Touriläden und mitten in buntestes Markttreiben. Laut und kraftvoll preisen Obsthändler, Gemüseveräufer, Schlachter und Bäcker, Fischer und Weber, Holzmacher, Zeitungsverkäuferm Köche und allerlei andere Gewerke ihre Waren an. Besonders fasziniert mich die Fischhalle, wo auf grünen Kräuterbetten in buntester Variation das Meer seine Pracht darbietet: Tintenfische und Schalentiere von klein bis groß, Gambas und Krebse tummeln sich neben Bergen aus Muscheln - schwarz, groß oder hell und klein, rote Fische neben fetten Doraden, halbierte Thunfische, ganze Schwertfische, Makrelen und was sonst noch alles Kiemen hat. Ein Genuss, sich das anzusehen.

Und Hunger macht es auch.

Eine weitere Liebes-SMS schlägt mir zusätzlich in die Magengrube, so setze ich mich an einen ruhigen, kleinen Kanal, trinke mir das Magenknurren etwas weg und denke an sie. Aber es hilft ja nichts: Ich habe hier zwei Wochen Rennrad-Reise vor mir, heute nur eine leichte, eine ganz leichte Einstimmung - und dann wird es hart.

Und sie, sie hat 2 Wochen China vor sich. Noch härter wahrscheinlich, Asien-Schock, ich kenne das schon, wünsche ihr viel Spaß und doch - wie gern hätte ich sie hier bei mir.

Die Gondeln schaukeln so schön, die klare Morgensonne lässt das Wasser zauberhaft glänzen und ich setze mich - nun, da ich glaube das gesehen zu haben, was ich wollte - noch einmal in eines der Ristorante und bestelle mir einen Capucchino.

Den Campanile zu besteigen wäre noch ein Schönes gewesen, aber die Schlange in Dreiherreihen hatte sich mindestens 1 Kilometer lang um den Markusplatz gewickelt - an einer Stelle kam es zu wildem Durcheinander, als sie sich mit der 2 Kilometer langen Schlange derer vermischt hatte, die in die Vasilica di San Marco wollen. Ein herrliches Schauspiel - Menschenmassen, noch dazu die von unbedarften Touristen - müssten doch jeden Psychologen faszinieren.

Es kommt der Gacon mit der Rechnung.
9 Euro stehen da drauf.
Das waren mal 18 D-Mark.
Ich starre auf den Zette und bekomme meinen Mund nicht zu. Eine Tasse Kaffee kostet in Venedig also 9 Euro. Zumindest diese Story haben meine Bekannten also wahr erzählt.

Nebenan am Tisch sehen das zwei ältere Herrschaften, der eine beugt sich herüber, lächelt und sagt: "Seien Sie froh, dass gerade kein Streichquartettspielt - sonst gibts 5 Euro Musikzuschlag."

Ich gehe wie ich kam - im Wassertaxi. Wieder sitze ich hinten, wieder neben einer dicken italienischen Mama mit ihrem dicken Mädchen. Uns gegenüber zwei Amerikanerpärchen, die sich just in diesem Moment kennenlernen.

Der Eine deutet immer auf meinen Rucksack. Sein Kollege, das merke ich jetzt, sitzt allein neben mir und buchstabiert seinem Freund nun die Firma, die meinen Rucksack produziert hat: "Delta-Echo-Uniform-Tango-Echo-Radio ..." Militärisch zackig.

Der andere Amerikaner fragt: "And what are you doing?"
Da erzählt der freimütig, dass sie beide Piloten im Ruhestand seien. (Aha, daher auch Delta-Tango-Uniform!).
"Which Airline?", fragt er weiter.
Der Partner deutet auf sein Basecap. Ich kanns nicht lesen, aber da steht was von "Air."
"Don´t know this one.", sagt er.
"Yeah, it´s private. We used to be the Pilots of Mel Gibson and Madonna."
Da nickt wissend der andere.

Na, schau mal einer an!

Bier oder Training?

Wieder im Hotel dusche ich, gehe gegenüber ins Ristorante und genieße eine Riesenportion Spaghetti alle Vongole, mache den Versand meines Bikecase via TNT nach Sizilien klar und stehe wenig später in meinem Badezimmer vor einer Entscheidung.

Es ist 17 Uhr.

Ich könnte mir jetzt meine gut gekühlte Flasche Birra Moretti nehmen, mich an den Pool hocken und die Sonne genießen.
Oder mir meine Radklamotten anziehen und eine kleine Einrollrunde drehen.

Bier oder Training?
Wenig später sitze ich im Sattel meines Cervélo, gebe Gas und lasse mir die frische Meeresluft in die Nüstern flattern - es war die richtige Entscheidung!

Cavallino-Treporti hat einen superglatten, wunderbaren Radweg und den nutze ich auch. Ich fahre da hin, wo ich gerade herkomme und wo ich morgen auch hin muss: Zurück zur Fähre nach Venedig. Es geht immer gerade aus, die Sonne brennt, ich schwitze, habe Gegenwind und doch - ich trete rein und genieße es.

Nach knapp 15 Kilometern und wenigen Minuten erreiche ich die Inselspitze, sehe noch eines der Wassertaxen ablegen, parke mein Rad am Damm und trinke eine Runde erhitze Schorle.

Ein tolles Gefühl, endlich Rad zu fahren. Und tausendmal besser, als am Pool zu liegen.

Was mir auffällt bei meinen ersten Metern auf italienischem Boden: So etwas wie "halte Dich rechts" scheint es hier nicht zu geben. Weder Autofahrer (die auch gern mal die ganze Straßenseite benutzen) noch Fußgänger (oder sind das alles Briten?) halten sich an den elementarsten Grundsatz der Straßen- und Wegebenutzung. So muss ich doch ein ums andere mal ein ganz schönes Slalom hinlegen, um mich mit 40 km/h durch Jogger und Familien zu manövrieren.

Ich schieße wieder zurück ins Hotel - wissend, dass meine Maschine gut zusammen gebaut ist, dass alles surrt und funktioniert, dass Dura Ace und Bremsen leise und präzise ihren Dienst versehen und dass ich es geschafft habe, mit meiner Mini-Reisepumpe die Conti GP 4000 so hart aufzublasen, dass sie den geringstmöglichen Rollwiderstand haben.

Der Carbon-Bolide ist bereit für 1.300 Kilometer Italien.

Bin ich es auch?

Nach dem Abendessen (fantastische Gnocchi und ein überragend frischer Salat mit Tonno) sitze ich auf meinem Balkon und studiere im Licht der untergehenden Sonne noch einmal die Karte für morgen.

Es geht zunächst zur Fähre. Dann auf die Inse, die Venedig vorgelagert ist - Lido di Venezia - diese dann bis zum Ende, dann weiter auf die nächste Insel - San Pietro in Volta - und dann nach der dritten und letzten Fährpasse nach Chioggia endlich aufs Festland. Immer gen Süden bis Ravenna.

Klingt doch einfach, oder?

In der Ecke steht mein Rennrad - bereit zum Sprung wie eine Katze. Es duftet nach Profi Dry Lube, mein Helm glänzt, die Sidi-Schuhe auch, ich lege mir meine Klamotten bereit, stelle die Arschcreme schon einmal hin, packe das Cervélo-Trikot aus und meine Zivilklamotten schon einmal ein.

Frühstück wird 7:30 Uhr sein, aber der Concierge hat mir versprochen, dass ich schon ab 7 etwas bekommen werde. So stelle ich meinen Wecker auf 6:45 Uhr. Die richtige Zeit, um im Urlaub aufzustehen, oder?

Eine SMS an meine Süße. Ich liebe Dich.
Und draußen stürmt eine Horde jauchzender Teenies aus USA lauthals an den Pool. Na, Schnecken, gegen Springbreak habe ich an sich ja nichts - aber bitte nicht heute, okay?

Während im TV die Partie USA-England anläuft, decke ich mich mit dem Laken zu. Es ist heiß in Italien.

Ich denke an Venedig, diese wunderschöne Stadt, denke daran, was für ein schöner Auftakt das war. Verabschiede mich schon einmal von Cavallino-Treporti, denke an Aldo, meinen verrückten Taxifahrer, denke an meine Süße, die ich erst in 3 Wochen wiedersehen werde, und in ein kaugummiartiges "Awesome!" das vom Pool heraufdehnt dämmere ich weg, schlafe ein, wälze mich im Schlaf, meine Beine zucken ... wollen treten ... wollen kurbeln ... wollen rennradeln.

Ruhig, Glieder, ruhig - morgen könnt ihr ja!

"Ich verlasse Venedig gern. Ich habe indes gut aufgeladen und trage das reiche, sonderbare, einzige Bild mit mir fort.", sagt Goethe. Und damals wie heute, trotz Disney-Touristen und 9-Euro-Capucchini, muss ich ihm beipflichten: Venedig ist doch eine Reise wert. Und indes bedaure ich, nicht mit meinem Weibe hier zu sein.

Für Verliebte muss sich diese Zauberstadt doch noch einmal ganz anders ausmachen.



Trainingsrunde zum Fährhafen

Etappenlänge: 24,5 km
Fahrtzeit netto: 52 min
Schnitt:
28,2 km/h


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5 Kommentare:

  1. Schön geschrieben, bin auf die Fortsetzung gespannt. Muß doch erfahren, wie Du Dich mit dem #RR in IT so geschlagen hast. Grüße, Norbert

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  2. Birra Moretti FTW!

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  3. Du machst einen wirklich tollen Job gemacht. Es ist erfreulich zu sehen, die Menschen genießen ihre Zeit tun, was sie am besten gefällt.

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  4. Schade, dass Sie nicht über einen Partner, der Sie unterstützen

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  5. Vielen Dank, dass Sie uns über Ihre Reiseerlebnis in Venedig, war es interessant zu lesen.

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